Briefe und Dokumente 1944 - 1947

Inhalt 1944 - 1947

25.08.1944 Keller an Grischkat

Wurzach (das ist im württ. Allgäu) 25.8.44.

Eing. Riga (über Oger): 9.9.44.
erl. 12.9.44.
Keller
(St: 26.)

Mein lb. Hans!
Zwar nicht mehr so bequem wie von 28115 zu 74195 (beides gibt"s nicht mehr!), aber durch Lene Eisenlohrs sorgliche Frauenhand seit heute im Besitz deiner F.P.Nr. kann ich dir wenigstens einmal schriftlich "die Hand drücken" u. sagen, daß die [?] Entfernung, die zur Zeit zwischen dem Civilisten und derzeitigen Moorkurgast HK. und dem Obergefr. HGr. liegt, der Freundschaft nicht den geringsten Abbruch tut. Wie du noch Schloßherr warst, da habe ich gedacht, "er" hat doch sicher so viel Zeit, daß er ruhig als erster schreiben kann", aber jetzt ists umgekehrt, und daher schreibe ich auch gleich als erster!
Sprechen wir zuerst von unseren Angelegenheiten! Die Schloßstr. 45 ist nicht mehr. War vorauszusehen und vorausgesehen, - aber schade ists doch um die runde Tischecke, um den genius loci so vieler guter Gespräche, um das schöne Radiogerät, u. anderes aber meinst du nicht, daß das alles in einem Jahr wiedererstehen wird, wo, weiß man noch nicht, aber sicher "wo"! Wie gut, daß du alles Wesentliche herausgebracht hast! Mein Haus ist nur "durchgeblasen" ( es gibt jetzt 3 neue termini technici; durchgeblasen, ausgeblasen, umgeblasen). Das Dach haben wir (Hilde und ich) notgedeckt bei dem herrlichen Wetter, heiß, aber nicht drückend, + das wir seit 14 Tagen haben +, genügt es. Nun soll ja wirklich totaler Krieg sein, Theater, Konzerte, Musikhochschulen, Weihnachtsoratorien und vieles andere soll aufhören. Also eben unzweifelhaft fünfter Akt. Was ich diesen Winter tun werde, weiß ich noch nicht, - ich sehe allem sehr gelassen entgegen. Wie der Krieg militärisch weitergeht, bis V 2; kommt, ist nicht zu sehen, - aber auch ich glaube, daß V 2; (besonders im Westen, das bis Kriegsende Kriegsschauplatz sein wird), einige heftige Gleichgewichtsschwankungen verursachen wird. Also vermutlich im Spätherbst wird man mehr sagen können.
Nun über unser gutes, altes Stuttgart ein paar Worte: der größte Verlust ist wohl die völlig zerstörte Stiftskirche (noch "hiner" ist die Leonhardskirche). Ich bin sonst nicht sentimental, Ruinen scheren mich wenig, wenn man alles andere denkt!, aber hier: die Markuskirche samt Orgel ist nur wenig beschädigt, ebenso [die] Hochschule. Der total zerstörte Kern von Stgt ist sehr klein, im Ganzen (scheint mir) ist von Stgt. mit Vororten nicht mehr als 20 30% hin (eher weniger). Aber die Gesamtlage Deutschlands ist "gefährlich", wenn auch absolut nicht zu übersehen. Meine Kriegsendeprophezeihung auf Ende 1943 muß ich auf 6 8 Monate verlängern [???]! Vor allem darf man jetzt vor keiner plötzlich auftretenden Schwierigkeit den Kopf verlieren! Die Schicksalsnotwendigkeit aller jetzt ineinander greifenden Ereignisse hat etwas unheimlich Imposantes.
Hier ists schön, das oberschwäbische Land mit seinem Katholizismus, in dem die Leute sich tief geborgen fühlen, gefällt mir immer mehr. Eben sitze ich im Café, höre schlecht Beethoven 4. Sy., - aber morgens schreibe ich in einem herrlichen Blumengarten, er gehört zu einem kl. Kloster!
Herzlich grüßt dich dein HK.

Anmerkung:
die beiden Ziffern zu Beginn des Briefes müssen die Telefonnummern von HG und HK gewesen sein (letztere lautete in den Nachkriegsjahren 762495)
Kurgast Moorbad: wahrscheinlich zum Kurieren der schweren Arthritis in beiden Knien, die er sich (vor allem im Kriegswinter 1943/44) in den ungeheizten Kirchen beim Orgelspiel zugezogen hatte
Schloßstraße 45: Wohnung der Familie Grischkat in Stuttgart

[handschriftlich 4 Seiten - Scan Originalbrief]

02.09.1944 Keller an Grischkat

Feldpost
[An] Ober-Gefr.
Hans Grischkat
46250

[Absender]
H. Keller. Stuttgart-Degerloch, Lohengrinstr. 30

[Poststempel WURZACH 4.9.44]



Wurzach 2/9 44
Eing. Riga: 17.9.44.
Keller

Mein lieber Hans!
Ein längerer Brief ging vor 8 Tg. nach 14700 ab, daher heute nur ein kürzerer, - viell. kommt der wenigstens an?! Dazu kann ich mir denken, daß das Gefühl des Abgeschnittenseins, weil dich keine Post erreicht, scheußlich ist. Man sackt zus., u. sieht Schatten u. Gespenster, wo gar keine sind.
Die Angriffe im Juli haben den Stadtkern von St. ziemlich vernichtet, unersetzlich ist wohl "unsere" Stiftskirche, aber sonst nichts. Um Schloßstr. 45 ists schade, - aber das Leben, das dort war, wird sich eben 1945 um einen anderen genius loci sammeln, wir werden bestimmt in ein paar Monaten (wenn euer Frontteil zurückgenommen ist u. ihr Urlaub bekommt) irgendwo eine gute Tasse Kaffee trinken u. von Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft reden! Bestimmt! Mir geht"s gut. Wo u. wozu ich nach meiner Moorbadekur zu der ich hier im württ. Allgäu bin, eingesetzt werde, ist noch unbestimmt. Ob ich die Erwartungen von Dr. Goebbels betr. Wende des Krieges erfüllen werde, scheint mir zweifelhaft!
Also lieber Hans, mache dir keine Sorgen um die Heimat! Sie ist noch dieselbe, auch wenn nicht mehr alles steht! Und sie wartet auf dich! Halt noch die paar Monate, längstens 8 10!, durch
Laß dich herzlich grüßen von
Deinem
H.

[handschriftlich Feldpostbrief - Scan Originalbrief]

28.09.1944 Keller an Grischkat

Feldpost
(An) Obergefr.
Hans Grischkat
46250

(Absender)
Keller. Stuttgart-Degerloch, Lohengrinstr. 30

[Poststempel ULM 30.9.44]



Deg. 28/9 44
eing. Nfw 25. Nov 44
Keller, H.

Mein lieber Hans!
Sehr habe ich mich über deinen Brief aus Riga gefreut! Ob du diesen bekommst, halte ich für sehr unwahrscheinlich; deshalb schreibe ich zwei, aber nur kurz!
Meine Endvorhersage bezog sich auf 1945, spätestens Sommer.
Vor ein paar Tagen war ich bei L.E. in Lw. (*) die gerade ein Päckle Gutsle, das nach Wesothen [?] gegangen war, zurückerhalten hatte, - wir haben sie gefressen u. deiner gedacht!
Deutschland wird dich nach dem Krieg sehr viel nötiger brauchen als jetzt, da alles zerstört ist: Kirchen (seit dem 13.9. fast alle!) Orgeln, Säle, Flügel (die Musikhochschule!), [dann] wird man anfangen, in kleinem Kreis Chor zu singen das wird die Keimzelle sein, - und eine sehr gesunde! Und dazu brauchen wir dich!
Nun ist meine Bach Ausgabe auch evakuiert auch durch L.E., auch sonst einiges, so daß nun der nächste Schlag kommen kann! Ich spiele 1.10. in Ulm (Münster) am 8.10. in Eßlingen Frauenkirche [?], am 15.10. in Michelbach (mit Kergl)
Also, lieber Hans, hoffentlich führt dich ein gütiges Geschick aus der baltischen Mausefalle heraus! Rührend, daß du nur eine Wehrmachtstournee machen wolltest!
Alles Gute u. viele Grüße!
Dein H.

(*) L.E. in Lw = Lene Eisenlohr in Ludwigsburg
[handschriftlich Feldpostbrief - Scan Originalbrief]

14.02.1945 Keller an Grischkat

Eing. Ufw. 2. März 45
Keller H.

Degerloch, den 14. 2. 45.

Mein lieber Hans!

Es ist ein herrlicher Frühlingstag heute, ich sitze ohne Heizung am offenen Fenster! Gestern kam Dein Brief vom 26. Jan., als ich den Poststempel Berlin sah, freute ich mich, du seiest glücklich rausgekommen, - nun ist das also doch nicht der Fall, aber du fühlst dich ja offenbar nicht von der Welt abgeschnitten?! Dass man dir schreiben kann, ist gut. Besser, dass du inzwischen ja weisst , dass den Deinen in R. nichts passiert ist. Auch uns hier bei den bei den beiden letzten Angriffen nicht (die an sich bedeutungslos waren). Dass du die Patenschaft so freudig akzeptierst, das freut mich! Danke Dir! Mögest du viel Freude an deinem Patenkind erleben, der prächtig gedeiht, wie ich höre, - denn hinfahren kann ich jetzt nur noch selten, da ich seit 14 Tagen beim Wohnungsamt tätig bin, und Zimmer etc. bescnlagnahmen darf oder muss! Ich tue tiefe Einblicke in die menschliche Seele! D.h, meistens ist sie gar nicht tief, nur etwas trüb. Wettervorhersage: Im Osten keine Fortschritte der Russen über die Oder nach Berlin. Sie werden das Errungene zu behaupten und zu verbinden suchen. Im Westen noch keine grosse Offensive, vor Mitte April. Ich hoffe aber doch, dass du in 4 Wochen nicht mehr in L. bist!
Leb wohl, hoffentlich sehen wir uns gesund wieder!
Herzlich Dein H.

[maschinengeschrieben 1 Seite - Scan Originalbrief]

26.06.1945 Keller an Grischkat

Eing. Schorndorf 26. Juni 45
Keller H.

Degerloch, den 26. 6. 45.

Mein lieber Hans!

Wir gehören also zu den Überlebenden! - Wie viel wäre zu sagen, und ich habe keine Lust, jetzt noch viel zu schreiben , als: komm bald! Verschaffe Dir eine kirchliche Armbinde, mit der du völlig sicher bist! Supper in Esslingen hat das auch gemacht, und kommt so ohne Passierachein überall hin!

Lene Eisenlohr wird einen Begrüssungskaffee in L'burg arrangieren , der unser drei würdig sein soll!

In Freundschaft wie immer
Dein
H.
[maschinengeschrieben 1 Seite - Scan Originalbrief]

08.11.1945 Grischkat an Keller

08115 II a Ke

Mein lieber Hermann! Keller

Ich hoffe, jemand zu finden, der diesen Brief morgen nach Stuttgart befördert. Vielleicht kannst Du auf einzelne Punkte dann sogar mündlich Antwort geben. Schade, dass wir uns wegen unseres Betriebes in Stuttgart gar nicht sprechen konnten.

1) Bist Du am Totensonntag, den 25. November, schon belegt? Wenn nicht, würde ich es herrlich finden, wenn Du bei der Aufführung der drei Bachkantaten Nr. 8, 161 und 106 mit meinem Kleinen Chor in der Reutlinger Marienkirche mitwirken könntest. (Auch ein selbstständiges Orgelstück, da es keine reine Aufführung ist, sondern die Kantaten mit Liturgie umgeben werden sollen). Diese Anfrage kommt deswegen so spät, weil ich eben erst erfahre, dass Herr Jetter, mit dem ich rechnete, an diesem Tag nicht mitwirken kann.

2) Gestern Abend habe ich mich, wenn auch schweren Herzens, so doch entschlossen mit der Kunst der Fuge zu warten. Einer der Gründe, warum ich warten will, ist auch der, dass wir beide uns nicht erreichen konnten, da ich doch so manches gern noch mit Dir in Ruhe durchgesprochen und auf Deinen Rat hin evtl. dies und jenes geändert hätte. Andere Gründe waren das späte Fertigwerden des Notenmaterials, der endgültigen Kirchenpläne, der Platznummern, das Nicht-geräumt-sein des Saales unter der Empore und schliesslich auch der Gedanke, dass auf dem Programm ein ziemlich ausführlicher Text über die Kunst der Fuge stehen sollte ähnlich dem, den Schwebsch zur Aufführung des Staatstheaters im Jahre 1932 auf das Stuttgarter Programm gesetzt hat, der mir im allgemeinen recht gut gefällt, aber doch nicht so, dass ich ihn etwa in dieser Form auch auf unserem Programm nachdrucken möchte. Ich lege Dir einmal eine Abschrift bei. Willst Du nicht etwas für unser Programm schreiben (mindestens in der gleichen Ausführlichkeit!)? Aber darüber können wir ja noch in Ruhe reden, da es durch die Verschiebung jetzt nicht mehr so eilt. Schön wäre es übrigens, wenn Du in der nächsten Zeit in einige Proben der Kunst der Fuge kommen und am besten sogar gleich in den betreffenden Fugen die Orgel spielen könntest. Man könnte dann dies und jenes klanglich gleich ausprobieren. Wir proben wir am kommenden Mittwoch vormittags 9 11.30 Uhr.

3) habe ich Dich eigentlich schon eindeutig gefragt, ob Du auch bei der Reutlinger Aufführung des Weihnachtsoratoriums am 16. Dezember die Orgel spielst (öffentliche Hauptprobe am 15., Gesamtprobe am 14. Dezember). Wenn nicht, sei es hiermit nachgeholt. Soeben kommt nun auch eine Anfrage von Tübingen, ob wir in der dortigen (geheizten !) Stiftskirche das Weihnachtsoratorium am 19. und 20. Dezember aufführen können im Rahmen einer grossangelegten Weihnachtsausstellung. Wärst Du bereit, auch dabei die Orgel zu spielen?
Hoffentlich ja.

4) Weißt Du übrigens, mit welchem der beiden Bassisten Alfred Appenzeller in Geislingen oder Hans Hager (ist er z. Zt. in Stuttgart oder wo?) ich schneller und leichter in Verbindung treten kann? Ich brauche für die drei Totensonntags-Kantaten noch einen, da Helmuth Stahl mir abgesagt hat. Oder weißt Du sonst einen guten, mit dem ich schnell Verbindung aufnehmen kann?

5) Für die Einladung zum Mittagessen durch Lene am Dienstag danke ich bestens. Ich werde also am kommenden Dienstag 12.30 Uhr Dich von der Hochschule abholen. Alles weitere dann mündlich.

Mit vielen herzlichen Grüssen
Dein

[A4, 2 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]

09.11.1945 Keller an Grischkat

Degerloch, den 9. 11. 45.

Lieber Hans,

Bis Dienstag, nur kurz:

1) leider bin ich am 25. nicht frei! Schade! Vielleicht Liedecke oder seine Frau oder Beate Schmidt aus Tübingen?

2) Verlegung Kunst der Fuge: wenn vor Weihnachten, ginge bei mir nur der 9. 12. Aber ob das ein guter Tag ist? Was ich dir raten würde, wirst du natürlich nicht befolgen: die K.d.F. gekürzt aufführen. Kein Mensch hält bei der jetzigen Kühle (noch nicht Kälte) mehr als 2 Std. aus. Die Stimmung wird dann immer "kühler" werden, die Leute werden weglaufen. Wenn du die 4 Kanons und 2-3 Fugen wegliessest, kämst du auf knapp anderthalb Stunden, das könnte gehen. Sonst erst im Frühjahr???

3) Weihnachtsoratorium. Ich habe damit gerechnet, auch in Reutlingen zu spielen und gehe gerne auch nach Tübingen mit. Und Ludwigsburg! Wie dächtest du über L. am 23., und Stgt. am 25. und ev. 26., falls notwendig?

4) Bassist. Hager wohnt in Kornwestheim, Kirchtalstr. 20, ist also leicht zu erreichen, hat aber seinen amerikanischen Fragebogen noch nicht eingereicht. Ein guter homo novus wäre Josef Strasser, der in Erlazheim (so heisst es glaube ich) bei Balingen sitzt, und neulich bei Leonhardt den Messias gesungen hat. Er hat eine sehr warme typisch "katholische" Stimme, vielleicht geht er aber auch für Bach-Kantaten?

5) Am Di.: ich bin in der Hochschule bis 12.00, wir essen um 12.30!

Herzlich grüsst dich dein H.

[A5 quer, maschinengeschrieben, nur Unterschrift von Hand]

27.12.1945 Keller an Grischkat

Degerloch, 27.12.45

Mein lieber Hans,

nun ist das W.O. vorbei, Du darfst das Bewusstsein haben, 8000 Menschen, die es hörten, eine große und neue Freude gemacht haben, u. viell. der zehnfachen Anzahl im Rundfunk, - aber, ist es nicht so, dass zwischen uns eine leichte Verstimmung entstanden ist? Von mir zu Dir ganz gewiß, und wohl auch umgekehrt, - anders könnte ich mir Deinen Angriff vom Sa. [???] nicht erklären. Aber es geschah ja alles, was wir aneinander auszusetzen hatten u. aussetzten in bester Meinung und Gesinnung, der Erfolg hat beiden recht gegeben,- aber ich empfinde es doch schade, dass in der Hitze der Vorbereitungs- und Aufräumarbeiten keine Möglichkeit war, das "abzureagieren". Wir werden uns erst im neuen Jahr wieder sehen, u. dann wohl auch nur flüchtig , eingespannt, - wir sollten aber einmal eine Stunde oder eine halbe wenigstens haben, uns in aller Ruhe und Freundschaft über Vergangenes und Zukünftiges auszusprechen.

Da ich kaum nach R. kommen werde , [???] einmal hier, bei einer Tasse Kaffee in Degerloch, nicht wahr? Die Zeit musst du bestimmen.

So grüße ich dich in alter unwandelbarer Freundschaft

Herzliche
dein H.

[A5 hoch, handschriftlich, schwer entzifferbar]

07.03.1946 Keller an Grischkat

7..3.46

Mein lieber Hans,

es heißt, man dürfte Dir schreiben und die Briefe würden Dir vorgelesen! Das ist doch zum mindesten originell. Ich schreibe im Vorzimmer mit [?] dem Kultusministerium, also noch nicht der gewöhnliche Ort zum Schreiben! -
Du hast viele liebe freundschaftl. sorgende Gedanken [?] um Dich gehabt. Wenn ich nicht dabei war, so halte das nicht für Gleichgültigkeit. Ich war von Anfang an der Ansicht, dass alle Schritte, die man vor der Verhandlung für Dich tut, [???]los sein würden. Und auch, dass man jetzt noch eine gewisse Zeit verstreichen lassen muß. Aber in Gedanken bin ich die ganze Zeit bei dir gewesen und habe mich mit dir in Verbindung gefühlt. Ich habe immer angenommen, dass du die Sache von der [???] Seite nehmen würdest, to make the best of it-, das klingt ja nüchtern. kaltschnäuzig, und besagt so viel.

Die Zeit wird dir eine wirklich "schöpferische Pause" werden, das glaube ich bestimmt. Eine Zeit der Selbstbesinnung, der Vertiefung. Du warst schon in Gefahr in zu viel Betrieb dich zu verlieren. Und fürchte nicht, dass du ins Hintertreffen kommst, wenn du jetzt ein paar Monate weg bist. Dieser "Fall" , den ganz Württemberg besprochen hat, hat nicht nur gezeigt, wie populär du bist, sondern hat deine Popularität sehr gesteigert. Zu deiner ersten Auff. nach der Haft werden sich die Leute drängen, - u. du brauchst da nur zu erscheinen! Alles was du in vielen Jahren gesät hast, das sprießt jetzt noch wie nach einem warmen Regen.

Du willst Eitz-Tonsatz [???] studieren?! Leider habe ich darüber gar keine Literatur, und die Bibl. der Hochschule "tut" noch nicht!

Jetzt ist es gerade 1 Monat, dass die Hochschule aufgemacht ist, und fast alles ist schon ordentlich im Gang. Was uns fehlt, ist ein Chorleiter !! Können, sollen wir auf dich warten ?

Nun Schluß!-
lass dich herzlichst
grüßen
von deinem H.

[A5 hoch, handschriftlich, schwer entzifferbar] ==> Scan des Originals

Festschrift Schwäbischer Singkreis

Zu diesem Brief fand ich in der Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum des Schwäbischen Singkreises einen Bericht der Tochter Gudrun Weller-Grischkat:

Am 5. Juli 1945 kam mein Vater aus dem Krieg nach Hause und schon im gleichen Monat fing er mit dem Reutlinger Singkreis und dem Grischkat Singkreis in Stuttgart an zu proben. Weil damals noch keine Züge fuhren, pendelte mein Vater in der ersten Zeit mit dem Rad zwischen Reutlingen und Stuttgart hin und her.
Im September begannen dann die Proben mit einem Kammerorchester in Reutlingen. Dieses Orchester wuchs im Laufe der Zeit und ist heute die Württembergische Philharmonie Reutlingen.
Die ersten Chorkonzerte fanden am 23. September in der Christuskirche Reutlingen mit dem Reutlinger Singkreis und am 30. September mit dem Grischkat Singkreis in der Markuskirche in Stuttgart statt. Im Dezember folgten dann sechs Aufführungen mit dem Weihnachtsoratorium. Am 15. und 16. Dezember waren zwei Aufführungen in der Christuskirche Reutlingen, am 19. Und 20. Dezember in der Aula der Universität Tübingen und am 22. Und 23. Dezember in der Markuskirche in Stuttgart.
Leider hatten die Stuttgarter Aufführungen ein juristisches Nachspiel. Vier der Musiker aus dem Kammerorchester hatten keine Spiellizenz für die amerikanische Zone und Verstöße gegen diese Verordnung wurden streng geahndet. Reutlingen war französische Zone und in Bempflingen war die Grenze.
Am 6. Februar 1946 wurden mein Vater und die vier Musiker (Herr Rapp, Hans Sperling, Georg Völker und Theo Zapp) verhaftet. Sie kamen in das Untersuchungsgefängnis in der Archivstraße in Stuttgart. Noch im Februar wurde drei Mal eine Verhandlung angesetzt und immer wieder verschoben. Endlich am 21. Februar war um 9 Uhr bis 13.30 Uhr die Verhandlung vor dem Militärgericht. Die vier Musiker und mein Vater wurden zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Am 22. Februar wurden die fünf Inhaftierten in die Zelle mit der Nummer 30 verlegt. Mein Vater merkte sich viele Zahlen anhand der BWV Nummern des Kantatenwerks. So dachte er, die Kantate 30 heißt: "Freue dich erlöste Schar", ob das wohl etwas zu bedeuten hat? Und tatsächlich, am 26. Februar steht in seinem Tagebuch zu lesen: "Rechtsanwalt Krüger meldet baldige Freilassung", und am 23. März um 12.30 Uhr wurden sie dann endlich alle aus dem Gefängnis entlassen. Nach der Entlassung ging es gleich weiter mit Proben für die Matthäus-Passion, die am 18. Und 19. April in der Christuskirche Reutlingen und am 20. April in der Stiftskirche Tübingen aufgeführt wurde.
Die Matthäus-Passion von Joh. Seb. Bach ist das Werk, das meinen Vater durch sein ganzes Leben begleitet hat, insgesamt waren es 97 Aufführungen unter seiner Leitung. Die ersten Aufführungen waren im Jahr 1929 in Reutlingen, die letzten Aufführungen im Jahr 1976 in Stuttgart und Ludwigsburg.

Gudrun Weller-Grischkat

Aus Festschrift
75 Jahre: Vom schwäbischen Singkreis zu RONDO vocale



(Klick auf Scans vergrößern dieselben)

22.05.1946 Bescheinigung für HG

11.06.1946 Grischkat an Keller

1166 I Ke - 11.6.1946

Lieber Hermann! Keller

Nur geschwind eine Kleinigkeit an unser letztes Gespräch betr. Hochschulchor anknüpfend: Bitte sorge doch energisch dafür, dass der Hochschul-Chor als Pflicht auch Gesangslehrern gegenüber durchgesetzt wird und dass nur in einigen wenigen dringenden Fällen Ausnahmen hievon gemacht werden. So stattlich und gut der Hochschul-Chor ist, so fehlen eben doch im Tenor vor allem klingende Stimmen. Und den Gesangslehrern gegenüber muss man doch ziemlich energisch betonen, dass die Behauptung, im Chor werden die Stimmen restlos überschrieen, barer Unsinn ist. Zunächst schmeichle ich mir immerhin, dass ich speziell einen Chor so zu führen verstehe, dass die Stimmen nicht überschrieen werden (3/4 der Zeit lasse ich überhaupt nur pp üben!). Und da der Gesamtchor nur 1 Stunden dauert, kommt für die einzelne Chorstimme im höchsten Fall Stunde lautes Singen heraus. Und wenn das zukünftige Solisten nicht aushalten, ist es wohl am besten, sie geben ihren Beruf von vorneherein auf. Aber das weißt Du ja alles selber am besten. Meine Bitte ist darum: Lass doch durch das Sekretariat ans Schwarze Brett noch einen besonderen Anschlag machen, wie es zu meinen Schülerzeiten immer üblich war, dass der Hochschul-Chor für alle Studierenden Pflicht ist. Im übrigen macht mir der Chor ja so viel Freude, vor allem deswegen, weil ich merke, wie alle Chorsänger voll und ganz und freudig bei der Sache sind.

Dann noch eine Kleinigkeit: Du gabst mir das berühmte Händel Orgelkonzert F-Dur zurück. Es fehlt aber eine Violine II und zwar die Stimme des ersten Pultes. Kannst Du danach suchen?

Mit herzlichen Grüssen
Dein


[A5 quer, 2 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]

21.08.1946 Keller an Grischkat

Immenstaad, 21.8.46

Mein lieber Hans,

noch nie habe ich Dir einen Geburtstagsbrief geschrieben, und jetzt sogar mit der Hand! Ich sitze im Häusle oben im Wohnzimmer, habe den Andreas um mich, damit seine Mama auch mal ungestört was tun kann. Er kippt den Papierkorb, [ ??? ] Bücher aus usw, - das kennst Du ja. Draußen ists windig und kühl, nach den unerhört schönen Sommertagen der letzten Wochen. Der See ist aber immer u. immer schön; das Wasser, die Wolken, die Berge, immer dieselben und immer anders, geben eine Ruhe und Überlegenheit über alles, was in der Zeitung steht, die mir dieses Jahr besonders gut getan hat, nicht wegen zu viel Arbeit, sondern wegen der [ ??? ] Disharmonie mit dem Kult-Min in Sachen der Hochschulleitung. Ich habe, um endlich eine Lösung zu erzwingen, am 30. 7. an Dr. Kaufmann geschrieben, dass ich endgültig die Leitung nicht übernehmen bzw. behalten werde. Für mich ist nun die Sache klar, aber das Hochschulproblem ist damit nicht gelöst.
Um so mehr müssen wir zusammenhalten, nicht wahr? Ich habe mich sehr für Dich über Deine ausgezeichnete Kritik von A. E. gefreut; sie wird Dir Deine Arbeit sehr erleichtern. Am 29.9. will ich meinen Bach Abend in der Markuskirche geben, - Rehabilitation für Tübingen!
Du feierst Deinen Geburtstag in einem Kreis, dem Du Dich verbunden fühlst, der Dich trägt!
Der Kreis hat sich erweitert, laß ihn nicht zerreißen! Und wir bleiben Freunde wie seither, nicht wahr?
Einen festen Händedruck!
Dein H.


[A4 hoch, 2 Seiten, handschriftlich, schlechte Kopie, schwer entzifferbar]

11.10.1946 Grischkat an Keller

1106 I Ke - 11. 10. 1946

Lieber Hermann! Keller

Da ich nach meinem Konzert am Mittwoch doch völlig verblödet war, will ich Dir doch verschiedene Dinge rückschauend und vorausblickend schreiben.

Zunächst zum Tedeum. Mitgewirkt haben von Radio Stuttgart: 5 Violine I, 4 Violine II, 2 Viola, 2 Celli, 2 Bässe, 1 Oboe, 1 Klarinette, 1 Fagott, 2 Hörner, wahrscheinlich 1 Trompete und 1 Posaune. Bei Trompete und Posaune bin ich aber nicht ganz sicher, ob es nicht doch Hochschüler waren. Ausserdem haben vom Staatstheater mitgewirkt: 2 Bässe, 1 Pauke, 1 Tuba. Frei verpflichtet wurden, ohne dass sie einem der drei Orchester-Körper (Hochschule, Radio und Staatstheater) angehörten, 2 Bratschen und 1 Fagott (Bratschen: Herr Schnabel und Frl. Ott, Fagott: der Vater unserer Hochschul-Cellisten Stolle, der sich angeboten hatte).

Nun zu den weiteren Plänen: Am Totensonntag, den 24. November, soll ich ja mit den beiden Kirchenchören der Markus- und Erlöserkirche, Bach'sche Kantaten aufführen. Ich habe ausgesucht:

Nr. 118: O Jesu Christ
156: Ich steh mit einem Fuss im Grabe
26: Ach wie flüchtig
45: Es ist dir gesagt, Mensch

Desgleichen mache ich, wie ich Dir vorgestern Abend erzählte, am Erscheinungsfest mit dem Singkreis:

Nr. 65: Sie werden aus Saba
123: Liebster Imanuel
120: Gott man lobet dich in der Stille

Noch nicht recht klar bin ich mir über die Weihnachtsmusik, von der Du vorgestern Abend sprachst und über die ich mir bei der Heimfahrt noch Gedanken gemacht habe. An und für sich sind meine Termine vor Weihnachten eigentlich vollkommen ausgefüllt. Es liesse sich zwar mit dem 4. Advent zur Not noch etwas einrichten. Doch wäre es mir eigentlich lieb, wenn ich mit der Kantorei in der Weihnachtszeit nicht öffentlich musizieren müsste. Gerade dieser Chor braucht in den nächsten Wochen viel diffizile Kleinarbeit und soll ja, da er eigentlich im Rahmen der Chordirigentenklasse aufgezogen ist, nicht nur für öffentliche Konzerte üben, sondern auch viele Dinge nur ansingen, um die Kenntnis von Chorliteratur zu vermitteln. Ich will mir in den nächsten Tagen noch einige Gedanken darüber machen, was ich mit der Kantorei nun arbeiten will, Auf jeden Fall möchte ich eigentlich etwas nehmen, was dann erst im neuen Jahr zur Aufführung kommt.

Dann noch ein paar Gedanken zum Brahms"schen Requiem. Nach Chorstimmen suche ich in den nächsten Tagen selber. Professor Eisemann sagte mir, dass eine kleine Anzahl in der Hochschulbibliothek seien. Bei einigen andern Kollegen will ich anfragen, da Du ja doch auch so viel Arbeit hast, dass ich Dich mit diesen Kleinigkeiten nicht behelligen möchte. Nur wenn alle Stricke reissen, würde ich Dich gewissermassen als letzte Notbremse nocheinmal ziehen (schön gesagt, nicht?). A1s Termin bitte ich um den letztmöglichen Semestertermin ganz am Schluss dieses Semesters, damit wir möglichst viel Zelt zur sorgfältigen Ausarbeitung haben. Das Brahms'sche Requiem ist eben doch beträchtlich umfangreicher als das Tedeum und es soll möglichst nicht abfallen gegen die letzte Aufführung. Ich habe mir heute Vormittag die Taschenpartitur des Requiem angesehen und müsste mit dem Hochschulorchester für die Aufführung mindestens acht Wochen arbeiten können, sonst schafft es das Orchester nicht: Es würde mir viel Freude machen, die Sache mit dem Hochschulorchester durchzuführen, wenn ich so viel Zeit dafür bekomme. Sonst würde ich doch vorschlagen, dass wir eben das Staatstheater-Orchester nehmen, das uns als Hochschule doch sicher ebensogut zur Verfügung steht, wie es jetzt bei Hans Arnold Metzger die Aufführung des Tedeums spielt. Aber wie gesagt, wenn ich genügend Zeit habe, arbeite ich es gern mit dem Hochschulorchester, denn auch die Proben zum Tedeum haben, glaube ich, nicht nur mir, sondern auch den Hochschülern Freude gemacht, wenn auch die Zelt leider viel zu kurz war.

Dann habe ich für den Hochschulchor noch die herzliche Bitte, mit den Gesangslehrern keinerlei Sonderabmachungen über Dispens von Gesangsschülern zu treffen. Gerade die Gesang Studierenden gehören in einen Hochschulchor. Man kann ja einigen, die neu bei einem Lehrer anfangen, für die Zeit des Umlernens etwa 4 - 6 Wochen lang einmal Dispens vom Chor erteilen, aber nicht länger. Die Fälle haben sich in letzter Zeit gehäuft, dass Schüler von Herrn Kammersänger Paulus und auch von Frl. Siben immer wieder zu mir kamen und mir sagen liessen, ihr Lehrer hätte mit Dir gesprochen, dass sie nicht in den Chor kommen brauchten. Das gibt ganz ungute Verhältnisse. Bitte lasse doch bei dem Anschlag, der den Neubeginn des Chores auf Mittwoch, den 23. Oktober 16 Uhr festsetzt, ausdrücklich einen Satz anfügen, dass auch sämtliche Gesang Studierende zur Teilnahme am Chor verpflichtet sind.

Schliesslich habe ich noch eine Bitte. Gerade die Tedeums-Aufführung hat mir wieder gezeigt, wie wichtig es ist, dass ich in meiner Wohnung in Stuttgart Telefon habe, da doch so unendlich viele Dinge gerade in den letzten Tagen vor einer Aufführung nicht klappen und schnellstens entschieden und in Ordnung gebracht werden müssen. Ich habe schon einen entsprechenden Antrag vom Postamt abgeholt und ausgefüllt und sollte von der Hochschule noch einen Ausweis haben, dass mein Telefon notwendig ist. Könntest Du mir also bescheinigen, dass ich Lehrer an der Hochschule bin und dass in meinem Fall das Telefon durch die Vorbereitung grosser Choraufführungen teils mit, teils ohne Orchester besonders wichtig ist, da für solche terminmässig festgelegten Aufführungen immer wieder kurzfristigste Entscheidungen getroffen werden müssen und eine Menge von organisatorischem Kleinkram in kürzester Frist anfällt und erledigt werden muss - oder irgend so eine schöne Formulierung, die Du viel besser als ich schreiben kannst.

So, das wäre vorläufig einmal alles. Nimm viele herzliche Grüsse von
Deinem


[A4, 2 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]

09.01.1947 Grischkat an Keller

0917 I Ke - 9. 1. 1947

Mein lieber Hermann! Keller

An das Gespräch bei unserer gemeinsamen Bahnfahrt habe ich noch manchmal denken müssen und will, da bei diesen Gedanken auch einige Dinge sind, die bei Wiederbeginn der Hochschule geklärt sein sollten, Dir doch vorher schreiben, dabei aber doch auch die Frage anschneiden, die an und für sich nicht eilig ist, mich aber doch beschäftigt hat. Ich meine Deine Aeusserung über die Arien der Bachkantaten, insbesondere über das Arioso "Es werden viele zu mir sagen" aus Kantate 45. Ich will nicht unter allen Umständen Bach"sche Sologesänge verteidigen, denn ich weiss sehr gut, dass so mancherlei Längen dem heutigen Hörer einschl. der Musiker auf die Nerven gehen. Aber dass Du gerade das oben erwähnte Arioso nanntest, hat mich frappiert und geschlagen. Denn ich erinnerte mich mit besonderer Deutlichkeit an meine erste Begegnung mit diesem Arioso als junger Student, der ich damals über die Geschichte der Aufführungspraxis Bach'scher Chor- und Orchesterwerke arbeitete und dabei eben auf die Zelter"sche Abänderung diese Stückes stiess. Ich stand den Zelter"schen Worten über dieses Stück, sowie auch der Aenderung in der Melodieführung völlig verständnislos gegenüber. Diese völlige Verständnislosigkeit kam bei mir daher, dass mir gerade diese Partitur so auf den ersten Blick einleuchtend und völlig überzeugend war. Während ich sonst das Verständnis manch Bach"scher Stücke mir durch ständige Beschäftigung mühsam erwerben musste, war mir gerade dieses Stück auf Anhieb restlos klar und überzeugend. Und ich empfand es und empfinde es heute noch als eines der elementarsten, unmittelbarsten, sprachgewaltigsten Stücke, in dem die Textworte und die damit zusammenhängenden Vorstellungen aufs deutlichste symbolisiert sind. Ich gebe zu, dass es nicht ganz einfach wäre - und ich habe im Augenblick nicht die innere Ruhe und Zeit dazu, dies zu tun, trotzdem mich die Aufgabe reizen würde - alles, was Bach mit der Instrumentalbegleitung sagen wollte, in Worte zu fassen. Man müsste wohl sehr weit ausholen, um es erschöpfend und überzeugend zu tun. Wenn man es nur kurz täte, müssten diese Worte notgedrungen sehr an der Oberfläche bleiben, wie dies doch manchmal selbst ein so feinsinniger Schriftsteller wie Albert Schweizer in seinen Kapiteln über die musikalische Sprache der Kantaten in seiner bekannten Bachbiographie tut. Die Darstellung müsste wohl davon ausgehen, wie die Streicherfiguren mit ablehnender Kraft geladen sind, wie sie das eherne Gesetzmässige der Textworte unterstreichen, während die Melodie des Bass-Solisten eben nur den Sprachrhytmus in beinahe Schütz'scher Eindringlichkeit darstellt.

Gelt, Du entschuldigst, wenn ich gerade Dir beinahe belehrend wirkende Sätze schreibe, aber Du verstehst sicher, wie ich es meine. Unser Gespräch hat mich halt einfach lange und ausgiebig innerlich noch beschäftigt.

Doch nun zu den andern Dingen, die mir für unsern Hochschulbetrieb sehr am Herzen liegen. Hier will ich der Einfachheit halber die Abschnitte nummerieren:

1) Orchester
Ich habe mir die Partitur zum Brahms'schen Requiem nocheinmal genau vorgenommen und festgestellt, dass bei einer wöchentlichen Probe das Orchester bis zur Aufführung dieses Werk wohl gerade schaffen wird, aber auch nichts weiter. Wenn wir also diese Aufführung mit unserem Hochschul-Orchester herausbringen wollen, müsste ich mit dem Orchester eine Probe wöchentlich mit absoluter Regelmässigkeit haben. Soll darüber hinaus noch ein Orchesterkonzert mit Beethovens Erster usw. stattfinden, so müsste eine zweite Orchesterprobe in der Woche als Pflicht für die Spieler eingesetzt werden und diese zweite Probe müsste dann Herr Wetzelsberger halten. Das abwechselnde Halten der Orchesterproben, so dass jeder von uns beiden nur alle 14 Tage zum Orchester kommt, halte ich auch aus andern Gründen noch für ganz ungünstig, ganz abgesehen davon, dass wir in dieser Form das Brahms"sche Requiem niemals schaffen würden.

2) Nochmals Orchester
Das Wichtige für das Orchester scheint mir zu sein, dass den Lehrern aller Instrumente das Orchester als ein für die Hochschule wichtiger Faktor deutlich gemacht wird, sie verpflichtet werden, die im Orchester zu studierenden Partien mit ihren Schülern genauestens durchzugehen, dass ein Lehrer eingesetzt wird, der in allen Orchesterproben anwesend ist, die Stricharten der Stimmen genauestens angibt und dass alle Lehrer es sich zur Ehre anrechnen, wenn möglichst viele ihrer Schüler im eigentlichen Hochschul-Orchester mitspielen. Für dieses Orchester müssten wir vielleicht eine Anzahl von 8-10 1.Geigen und entsprechender Besetzung in den andern Stimmen als Norm aufstellen. Alle andern Schüler, die noch nicht für dieses Orchester reif sind, müssten in einer Art Vor-Orchester zusammengefasst werden. Dieses Vor-Orchester würde ebenfalls Pflicht für die noch nicht im eigentlichen Hochschul-Orchester spielenden Schüler sein müssen und gleichzeitig als Schulungsorchester für die Orchesterdirigentenklasse laufen, so dass der Unterricht für dieses Vor-Orchester und die Orchesterdirigentenklasse auch zeitlich und räumlich zusammenfielen. Wichtig ist aber für beide Orchester, dass die Lehrer aller Instrumente daran interessiert werden, denn nur so könnte man, was ich gerade in der augenblicklichen Situation der Hochschule für ungeheuer wichtig halte, ein wirklich einwandfreies [ ]gen bietendes Orchester zusammenbringen. Mir selber liegt die Sache deswegen ganz besonders am Herzen, weil ich so viele menschliche und musikalische Bereitschaft bei unseren Hochschülern finde, dass wir diese Situation für die Verbesserung dieses Klangkörpers unbedingt ausnützen sollten.

3) Orchesterdirigentenklasse
Die regelmässige Arbeit in dieser Klasse am Mittwoch Vormittag macht sowohl den Schülern als auch mir ausgesprochene Freude. Und auch technisch sehe ich beträchtliche Fortschritte. Wenn der Plan dieses Vor-Orchesters in den nächsten Wochen durchgeführt werden körnte, wäre damit natürlich auch für die Ausbildung der Schlagtechnik der einzelnen Schüler ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen. Darüber hinaus wurde von den Schülern ein Wunsch an mich herangetragen, den ich Dir doch weitergeben möchte, weil ich diesen Wunsch als sehr berechtigt empfinde, allerdings auch mancherlei technische Schwierigkeiten sehe. Der eine Wunsch lautet, durch Schallplatten-Vorführungen die Literaturkenntnisse der Dirigentenschüler zu erweitern und das Partiturstudium zu ergänzen. Kann die Hochschule hier etwas tun?

Der zweite Wunsch ist, dass die fortgeschritteneren Schüler nach genauem Erarbeiten der Partitur, sagen wir einer Haydn- oder Beethoven-Symphonie dieses Werk auch vor einem Berufsorchester stehend dirigieren sollten. Kann hier die Hochschule etwas tun? Ich weiss, dass beide Punkte schwierig sind, aber meine Orchesterdirigenten-Schüler lassen mir gerade damit keine Ruhe und ich will ihren Wunsch doch an Dich weitergeben. Wir sind schon auf folgenden Ausweg gekommen, der allerdings im Augenblick durch Zonengrenzen und manche andern Dinge auf Schwierigkeiten stösst, vielleicht auch wegen seiner Umständlichkeit ein Lächeln auf Deine Züge zaubern wird: Die gesamte Orchesterdirigentenklasse fährt etwa alle 4-6 Wochen übers Wochenende nach Reutlingen, wo am Samstagnachmittag mein Städt. Symphonie-Orchester Reutlingen für die praktischen Uebungen der Fortgeschritteneren zur Verfügung stünde. (Dass wir das nicht umsonst machen könnten, versteht sich wohl von selber. Kann die Hochschule wenigstens das Geld dazu geben?). Des Weiteren würde ich dann an einem Samstag und Sonntag aus meiner grossen Schallplattensammlung den Schülern vorführen und die Werke an Hand der Partitur mit ihnen durchsprechen. Es wäre natürlich alles einfacher wenn dieses Städt. Symphonie-Orchester Reutlingen in Stuttgart wäre und ebenso meine Schallplattensammlung. Denn die räumliche Entfernung erschwert doch manches. Aber wie halt die Hochschüler sind, sie sehen die Schwierigkeiten nicht so gross. Vor allem glaubt einer der Schüler die Passierscheinfrage mit Herrn Jenkins leicht lösen zu können. Was meinst Du dazu?

4) Chor nach dem Brahms-Requiem
Nach meinen Erfahrungen rate ich dringend, nicht nur ein zeitgenössisches Werk zu nehmen (Marx), sondern neben dieses zeitgenössische Werk in gleicher Weise etwas anderes zu stellen. Die Spannkraft eines so grossen Chores ist nicht so gross, dass das gewünschte Ziel befriedigend erreicht würde. So mache ich den Vorschlag, neben das Marx"sche Werk etwa die mehrchörigen Schütz- und Prätorius-Werke zu stellen. Das würde aber bedeuten, dass wir mit keinem der beiden Werke vor den grossen Ferien fertig würden. Liesse sich das nicht bei der Planung der von Dir genannten Musikwoche berücksichtigen? Ein ungesundes Forcieren oder ein sich mit einer technisch weniger vollkommenen Leistung zufriedengeben möchte ich unter allen Umständen ablehnen.

Das ist, glaube ich, der längste Brief geworden, den ich je an Dich geschrieben habe. Aber ich wollte doch alles vor dem Hochschul-Wiederbeginn formuliert haben.

Nimm für heute viele herzliche Grüsse
von Deinem


[A4, 3 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]

14.09.1947 Keller an Grischkat

STUTTGART-DEGERLOCH, DEN 14. 9. 47.

Mein lieber Hans!

Nun bin ich wieder weg von der Bachfestluft in Reutlingen, es war schön, und ich dank' dir, dass ich mittun durfte, besonders für die Motette, und wenn mein Spiel eurem Fest an Gesinnung und Stil entsprochen hat, dann bin ich "belohnt genung"!
Bitte schicke mir 3-4 Bachfestbücher, - ich will sie in die Schweiz senden, und da ein bischen für euch werben, Vielleicht könntet ihr den Familientag mal in Schaffhausen machen ??
Ich fuhr mit Marianne Ott und wir sprachen lange und mit den besten Gesinnungen über dich und deine Arbeit. Bitte nimm den Satz "Qui trop embrasse, mal étreint" sehr ernst. Du bist, glaube ich, jetzt an die Grenze deiner körperlichen und künstlerischen Leistungsfähigkeit angelangt. Sie ist grösser als die der meisten Menschen. Aber letzten Endes machen das Rennen die Menschen, die sich bewusst und klug auf ein kleines Gebiet beschränken, wie z.B. Kreutz. Ich konnte es nicht und lag lange im gleichen Spital krank wie du vielleicht bald. Deshalb muss ich dich warnen. Spare Kräfte für 1950, mach wenig in den nächsten zwei Jahren, und Hans, treibe mehr a capella Chor! Lass die 100. Kantate auch wirklich eine Art von Abschluss sein, sieh dich nach der herrlichen Motetten-Literatur und nach Madrigalen u.a. was jetzt viel zu sehr vernachlässigt wird! Geh im Orchester über dein Reutlinger Orchester nicht hinaus. Die zwei Stgter Hochschulorchester sind zu viel. Wir, Marianne Ott und ich, waren gleicher Meinung, und wie sie sagte, ist diese Meinung auch bei vielen Studierenden, die dich im übrigen ja alle sehr mögen, verbreitet. Kompromisse - Köhler - liebst du nicht, aber vielleicht Arbeitsteilung? Etwa so, dass grundsätzlich bei Oratorien dein Reutlinger Orchester begleiten würde, und das Hochschulorchester einen neuen Leiter bekäme, wenn ich nur wüsste, wen?? In der Öffentlichkeit spreche ich natürlich ganz anders, da bist du die einzige und beste Lösung. Aber als Freunde müssen wir so etwas vorfühlen, dann vordenken, dann erst unter uns vorbesprechen, dann erst weiter die Fühler ausstrecken.
Dein Festbuch ist vortrefflich, ich habe es erst im Zug gelesen, ich war eben in R. doch noch halb krank. Nur mit den Kanons bin ich nicht einig. Der 2. ist eben doch energisch, der vierte geradezu dämonisch erregt aufzufassen, und alle vier sind nicht für Orchester. Sehr imponiert hat mir die innere Grösse, die du Nr. 8 und 11 gabst.
Bitte gib dem Sekretariat deinen genauen Stundenplan für 23. und 24. bekannt. Wie sollen die neuen Leute in die Orchester eingeteilt werden? Sollen Bläser kommen und welche?
Geniesse deine Festwoche noch so, wie nur du so etwas geniessen kannst! Wie gerne wäre ich noch dabei, aber es ist völlig unmöglich!

Wie immer in Freundschaft
Dein H.


[A4, 1 Seite auf Briefpapier mit Briefkopf, maschinengeschrieben, nur Unterschriftenkürzel von Hand]

31.12.1947 Grischkat an Keller

18.12.1947 - 31127 I Ke - 31. 12, 1947

Lieber Hermann! Keller

Es hat sich doch einiges angesammelt, was ich Dir der Sicherheit halber schreiben will, da ich nicht weiss, wann wir uns sehen.

Zunächst habe ich zweimal mit dem Leiter der hiesigen Volkshochschule gesprochen. Um nun ganz konkrete Vorschläge zu machen, habe ich mit ihm Folgendes vereinbart:
Du hältst nach Schluss des laufenden Trimesters (also ab April) hier einen Kurs oder eine Vortragsreihe. Das Thema bleibt Dir überlassen, doch meint Herr Zeller, der Leiter der Volkshochschule, dass es ein allgemeines musikalisches Thema sein sollte und nicht die Behandlung eines einzelnen Musikers. Als Tag dachten wir vielleicht Freitag. Dachtest Du eigentlich an einen Abend in jeder Woche oder alle zwei oder drei Wochen? Herr Zeller meinte das Letztere, vor allem auch, da es dadurch mit der Bezahlung günstiger wäre. Denn bei einem regelmässigen Kurs pro Woche beträgt glaube ich das Honorar für einen Kursabend Mk. 10.-, während es bei der andern Form in zwei oder drei Wochenabständen als Vortragsreihe aufgezogen werden könnte, wodurch etwas günstigere Honorare herauskommen. Wie ist denn die Bezahlung in Ludwigsburg oder Stuttgart bei der Volkshochschule? Ich glaube, Herr Zeller genierte sich selber etwas, als er diese niedrigen Sätze für die regelmässigen Kurse nannte. Aber dies alles, sowohl das Thema, wie auch der Wochentag und die andern Dinge sollen keine festen, sondern nur Diskussionsvorschläge sein.

Dann die Frage des Dritten Teils der Klavierübung. Palmsonntag mache ich hier mit meinem Reutlinger Singkreis die Johannespassion von Bach. Acht Tage vorher, also 14. März, wäre aber wohl möglich. Noch lieber wäre mir allerdings eine Zeit nach Ostern.

Dann wolltest Du meinen Hochschul-Stundenplan haben. Her ist er. Zuerst die Gesamtaufteilung:

2 Stunden Kantorei
1 Stunde Gesamtklassenunterricht (Literaturkunde etc.)
2 Gruppen Fortgeschrittene von je 1 Stunden Dauer
3 Gruppen Anfänger von je 1 Stunde Dauer
2 Stunden Chor
(Dazu noch die monatlichen Arbeitstage in Reutlingen, so auch jetzt in den Ferien).

Die Zeiten sind Dienstag 15-19, Mittwoch 8-13 und 16-18 Uhr. Die Aufteilung im einzelnen wird wohl ungefähr so bleiben, wie sie seither war: Vor allem wird also wohl bestehen bleiben Kantorei Dienstag 16-18 und Chor Mittwoch 16-18 Uhr. Darf ich Dich nocheinmal bitten, mir für diese Stunden doch den kleinen Saal zu geben, da die Schwierigkeit mit der grossen Menge Noten, die wir für alle Stunden benötigen, beträchtlich ist. Die Noten sind ja alle im Schrank im kleinen Saal untergebracht und müssten sonst von einem Stockwerk ins andere oder gar von einem Haus ins andere geschafft werden. Ausserdem ist es oft im Verlauf einer Stunde notwendig, neue Noten aus dem Schrank zu holen usw.

Wäre nun nicht bei der Neuregelung das Orchester doch besser auf einen andern Tag als den Dienstag zu legen? Ausserdem möchte ich doch nocheinmal fragen, ob nicht ein Vorverlegen des Hochschulchores um eine Stunde möglich ist. Ich würde durch diese eine Stunde Vorverlegung 3 Stunden früher nach Reutlingen kommen, was mir nicht nur wegen dieser 3 Stunden Arbeitszeit wichtig ist, sondern auch, weil es gerade nach den anstrengendsten zwei Stunden, die der Hochschulchor für mich darstellt, immer etwas sehr unangenehmes ist, noch 2 Stunden in Stuttgart wartend herumzusitzen. Ausserdem habe ich ja alle drei Wochen Mittwochs in Reutlingen Symphonie-Konzert, muss mir für diesen Mittwoch immer ein Auto bestellen, was jedesmal mit Kosten von Mk. 30 bis 40.- verbunden ist.

Dann noch etwas anderes. Zunächst hat mich Dein Wort, dass das Orchester für die Schöpfungs-Aufführung so teuer gewesen ist, doch ziemlich stark berührt. Ich möchte dazu noch sagen, dass das Orchester von mir ausgesprochen billig berechnet wurde, wie ich es eigentlich gar nicht kann und dass ich nur bei der Firma Russ zum Schein für mich ein Honorar angegeben habe, das ich aber hier dem Orchester als Einnahme zukommen lassen musste. Wir beide hatten, als wir über die Aufführung der Schöpfung sprachen, vereinbart, dass die Hochschule weder mit dem Risiko, noch mit dem [ ]schuss dieser Aufführung etwas zu tun haben sollte und dass ich über diese Aufführung mit der Südwestdeutschen Konzertdirektion gewissermassen als vollständig selbständige Aufführung verhandeln sollte. Das habe ich getan, aber dann nachher eigentlich nicht erwartet, dass Du nach unserer eindeutigen Absprache, dass die Aufführung wirtschaftlich nichts mit der Hochschule zu tun hat, nachher den Posten des Orchesters beanstandest. Vor allem muss ich nocheinmal sagen, dass der Posten äusserst niedrig berechnet war. Wir hatten 59 Musiker für zwei Aufführungen, eine Gesamtprobe und zwei reine Orchesterproben gehabt und der Mindestsatz, den ich dafür berechnen kann, ist Mk. 70.- pro Musiker. (Du weisst, welche Sätze die Herrn vom Staatstheater berechnen). Dazu kommen nahezu Mk. 20.- Fahrgeld für jeden Musiker für zwei Fahrten von Reutlingen nach Stuttgart und zurück. Diese Fahrten sind natürlich das Teure bei meinem Orchester und um durch sie nicht zu einer wesentlich höheren Summe zu kommen, als sie das Philharmonische Orchester etwa verlangt hätte, habe ich die Berechnung in der oben beschriebenen Weise vorgenommen, dass ich für meine Person ein hohes Honorar einsetzen liess, das aber in die Orchesterkasse floss.
Uebrigens kommt mir immer gelegentlich nocheinmal der Gedanke, ob ich nicht die gesamte Hochschularbeit aufgeben soll, so vor ein paar Tagen wieder, als die Firma Bosch an mich herantrat mit der Bitte, die Werkmusik neu aufzuziehen, die ich sechs Jahre lang mit grosser Freude gemacht hatte. Es ist nach unseren Besprechungen der letzten Wochen halt doch immer wieder einmal die Frage, wieweit dieser Teil der Hochschularbeit etwas wirklich Dauerndes ist. Aber da müssen wir halt evtl. doch nocheinmal mündlich darüber reden.

Das wäre für heute alles. Nimm viele herzliche Grüsse
von Deinem


[A4, 2 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]