1924 · Über den Vortrag der Bachschen Orgelwerke

Neue Musik-Zeitung

Ein Beitrag zur Bach-Ästhetik

Man kann sich nicht leicht für den nachschaffenden Künstler eine schwierigere, verwickeltere, in sich widerspruchsvollere Aufgabe denken, als das Problem, wie die großen Orgelwerke von Bach in der heutigen Zeit und auf den heutigen Instrumenten vorgetragen werden sollen, zugleich aber auch kaum eine Aufgabe, die wichtiger und schöner wäre, denn was läßt sich an Großartigkeit des Inhalts und seiner formalen Prägung mit diesen Meisterwerken vergleichen, außer den allergrößten Schöpfungen der Musik, den Sonaten und Symphonien Beethovens, einigem von Mozart und einigem Wenigen im 19. Jahrhundert? Es ist wahr: es lohnte sich nicht, Orgel zu spielen, wenn es Bach nicht gäbe. Während wir es aber von jedem Musiker als selbstverständlich voraussetzen, daß er eine mehr als nur oberflächliche Kenntnis etwa der Beethovenschen Symphonien, Klavier- oder Kammermusik besitzt, fehlte bis vor kurzem den meisten Musikern selbst eine oberflächliche Kenntnis der Orgelliteratur, also auch der Orgelwerke Bachs; doppelte Verantwortlichkeit mußte daher der Organist empfinden, da er in viel höherem Maß als etwa der Klavierspieler nicht nur für seine eigene Leistung, sondern auch für das Werk sich verantwortlich fühlen mochte. Und doch soll man Bach spielen, so oft wie möglich, auch im Gottesdienst, um so die Grundlagen zu schaffen, die in der Klaviermusik durch das häusliche Musizieren längst da sind.

Aber wie soll man Bach spielen: stilgerecht, historisch, "objektiv", oder modern, "subjektiv"? Soll oder darf man die Hilfsmittel benützen, die dem Organisten die mittleren und großen Instrumente heute bieten, ihren Farbenreichtum, ihre dynamischen Schattierungsmöglichkeiten, ist der Gebrauch des Jalousieschwellers erlaubt oder für Bach verpönt? Ist es erlaubt, das Liniengefüge aufzulockern, wie es z. B. Straube in wunderbarer Weise getan hat, der uns so in alle Tiefen Bachscher Stimmführung hineinschauen läßt, oder soll man, wie Schweitzer will, ungebrochen linear spielen? Soll man das Bildliche in der Tonsprache der Bachschen Orgelwerke herausarbeiten, wie man es z. B. in den ersten zehn Jahren nach Schweitzers Bach-Buch fast allgemein bei den Cantaten getan hat? Muß man eine Fuge mit vollem Werk oder "darf" man sie piano schließen? Inwieweit sind Modifikationen des Grundtempos geboten? Darf man einen Manualwechsel oder eine Zerstreuung der Stimmen über verschiedene Manuale an Stellen vornehmen, an denen Bach das bestimmt nicht so gedacht hat? Wie soll man phrasieren und artikulieren, in vorherrschendem "erhabenen" Legato oder mit all der Mannigfaltigkeit, mit der Bach etwa seine Kammermusik bezeichnet hat? Stammt nicht alle diese Musik aus einer Quelle? Das alles sind schwierige und verwickelte Fragen, und kein Spieler, wenn er einmal aus dem Stadium der "Unschuld" (wie es Schopenhauer boshafterweise nennt, wenn er von denen spricht, die Kant noch nicht gelesen haben) diesen Problemen gegenüber hinaus ist, wird ihre jedesmalige Lösung in der Praxis auf die leichte Schulter nehmen.

Aber wo soll er sich Rat und Belehrung holen? In der ganzen unübersehbaren Bach-Literatur ist Schweitzer so ziemlich der einzige, der praktische Anweisungen zum Vortrag der Orgelwerke gibt. (Ein Buch von P. Isidor Mayrhofer, "Bach-Studien", 1901 bei Breitkopf & Härtel erschienen, ist derartig naiv und anspruchslos, daß es allenfalls nach ernster Arbeit zur Erheiterung dienen kann.)

Schweitzer gibt aber auch nur eine, und dazu sehr stark persönliche Auffassung, nur eine Ansicht unter vielen möglichen, und es gibt kaum etwas Interessanteres, als nach einer Lektüre von Schweitzer etwa den zweiten Band der Orgelwerke in der Straubeschen Ausgabe zur Hand zu nehmen!

Weiter kommt dazu, daß die Organisten seit alters Bach aus unbezeichneten Ausgaben zu spielen pflegen, während die Klavierspieler in ihrer großen Mehrzahl die unbequeme Verantwortlichkeit für Tempo, Dynamik, Phrasierung, Vortrag auf die Herausgeber der von ihnen gewählten Ausgaben abzuwälzen belieben, auf Czerny, Ruthardt, Wiehmayer, Klindworth, Mugellini, Busoni und wie sie alle heißen. Gerechte und Ungerechte ; zu den unbezeichneten Ausgaben von Bischoff (Steingräber) und Kroll (Peters) pflegen nur wenige vorzudringen.

Nun möge niemand von mir erwarten, daß ich den naiven Versuch machen werde, alle diese Fragen (und sei es auch nur in einem bestimmten Sinne) "lösen" zu wollen; vielleicht erweise ich aber dem Leser einen größeren Dienst, wenn es mir gelingt, ihm klar zu machen, daß etwas wie eine allgemein gültige "Lösung" all dieser Probleme überhaupt nicht gedacht werden kann.
Da ist nun zunächst eine kleine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dem Wesen des musikalischen Kunstwerks nötig. Als vor zwölf Jahren eine Umfrage veranstaltet wurde, ob Parsifal auch über die dreißig Jahre Schutzfrist hinaus an Bayreuth gebunden sein solle, hat mich von allen eingelaufenen Antworten eine interessiert, die, glaube ich, Busoni gegeben hat: die ganze Frage sei belanglos, Parsifal sei unabhängig von irgend einer, auch einer Bayreuther Aufführung, vielmehr sei er in der Partitur enthalten, die er (Busoni) in seinem Notenschranke stehen habe und die nicht profaniert werden könne (ich zitiere aus dem Gedächtnis). Sicherlich ist aber das musikalische Kunstwerk weder in seiner Fixierung, durch Niederschrift oder Druck, noch in den Aufführungen, die es erlebt, restlos enthalten, sondern beides sind nur Vermittlungen, wobei allerdings auch ich der bleibenden Fixierung einen höheren Wert zuerkennen möchte, als der Aufführung, die immer mit außerkünstlerischen und zufälligen Umständen verbunden sein wird; allein der Unterschied beider ist lediglich der eines durchsichtigeren und eines trüberen Mediums.

Die Philosophen sagen, am Anfang aller Erkenntnis stehe die Einsicht, daß die reale Welt, deren Wirklichkeit dem naiven Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, mit Sicherheit nur im Zusammenhang mit dem erkennenden Subjekt existiere ("die Welt ist meine Vorstellung"). Der Streit der philosophischen Richtungen über die Ausdehnung oder Begrenzung dieses grundsätzlich unangefochten gebliebenen Erkenntnissatzes kümmert uns hier nicht, wohl aber seine Anwendung und erweiterte Ausdehnung auf die Kunst: es gibt kein Kunstwerk, ohne einen, der es nacherlebt, und da sich dieses Erlebnis des Kunstwerks im eigenen Ich nicht in Form einer einfachen Wahrnehmung vollzieht, sondern mit vollster Intensität, mit Einsatz des ganzen geistigen Menschen in ihm gewissermaßen neu entsteht, so folgt daraus mindestens so viel, daß es eine "objektive" Wiedergabe eines Kunstwerkes in der Musik nicht geben kann. Wenn man im gemeinen Sprachgebrauch von einem Künstler sagt, er habe Bach oder Beethoven "objektiv" gespielt, so bedeutet das entweder, daß seine Persönlichkeit mit der des schaffenden Künstlers so wesensverwandt ist, daß sich beide zu decken scheinen, oder aber (im ungünstigeren und häufigeren Falle), daß die eigene Persönlichkeit "gegen das Kunstwerk zurücktritt", wenn sie nämlich ihm gegenüber zu farb- und belanglos ist; dann ist objektiv so viel wie langweilig. Nun sind wir Bach-Spieler gegenüber dem großen Bach alle kleine Leute und müßten verzweifeln, wenn nicht durch die Macht der Einwirkung dieser Musik unsere geistig musikalische Persönlichkeit wachsen, größer und edler werden könnte, so daß wir, ohne uns als Tempelschänder vorkommen zu müssen, Vermittler dieser Musik werden können. Im Vorbeigehen sei gesagt, daß von diesem inneren Wachstum erfahrungsgemäß wenig, manchmal nichts sich ins reale Leben zu übersetzen pflegt, wie ja auch das ganze in der Kunst sich offenbarende Leben keine Realität, außer der ästhetischen, hat.

Wie der Ausdruck "objektive", muß auch der Ausdruck "subjektive" Wiedergabe abgelehnt werden, denn jede Wiedergabe ist notwendigerweise subjektiv und, was man gemeinhin so nennt (in tadelndem Sinn), entsteht durch eine störende Wesensungleichheit des nachschaffenden mit dem schaffenden Künstler.

Nun wird aber der ganze Vorgang künstlerischer Vermittlung bei der Musik dadurch noch komplizierter, daß es sich nicht nur um die Umsetzung des Kunstwerks in der geistigen Persönlichkeit des Spielers handelt, sondern derselbe Vorgang sich nocheinmal zwischen Spieler und Hörer abspielt. Ersterer ist Objekt, letzterer Subjekt in ästhetischer Beziehung. Wenn ich einem Albbauern die Passacaglia vorspiele, so existiert für ihn dieses Kunstwerk nicht (wahrscheinlich versteht er dafür Dinge, von denen ich keine Ahnung habe). Andererseits ist das Merkwürdige, daß man auch durch das Medium einer unvollkommenen Interpretation hindurch einen vollkommenen Eindruck vom Kunstwerk haben kann; jeder hat schon erlebt, daß er etwa bei Proben aufs stärkste gepackt war, während man oft bei einer ausgezeichneten Aufführung kühl und teilnahmslos bleiben kann.

Erst in der Umsetzung in das eigene Ich wird uns also das musikalische Kunstwerk lebendig, und diese Umsetzung haben frühere Zeiten ohne Reflexion so vollzogen, daß sie wesensfremde Elemente entweder ignoriert oder aufgesogen haben. So hat man ja bekanntlich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts Baudenkmale früherer Zeiten, ohne irgend eine Hemmung dabei zu empfinden, im Stil der eigenen Zeit fortgesetzt oder ausgeschmückt (erst das 19. Jahrhundert hat restauriert, aber wie! ); ebenso verfuhr man in der Musik: Mozart hat ohne Bedenken Händelsche Oratorien für Mozartsches Orchester uminstrumentiert, Beethoven alte schottische, irische und gälische Lieder in einem Stil bearbeitet, für den er heute erbarmungslos von der Kritik verrissen werden würde, und nicht anders verfuhr natürlich der erste Herausgeber einer Bach-Ausgabe für den praktischen Gebrauch: Karl Czerny. Wenn er behauptet, die Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers so aufgezeichnet zu haben, wie er sie öfters von Beethoven selbst habe spielen hören (dessen Schüler er, als Wunderkind, von seinem neunten bis zwölften Lebensjahr war), so ist das sicherlich richtig: die ganze Art der Vortragsbezeichnung, die vielen Steigerungen innerhalb einer Phrase, die gefühlsbetonten Sforzati, der häufige, nicht architektonisch, sondern stimmungsmäßig bedingte Gegensatz von f und p, gibt das deutliche Bild Bachscher Musik in ihrer Umsetzung in die Beethovensche Gefühlswelt. Und was hätte Czerny anderes tun können? Er schrieb seine Vortragsbezeichnungen für ein Instrument, das vom alten Cembalo so verschieden wie nur möglich war, und es wäre ihm absurd vorgekommen, auf Ausdrucksmittel des Klaviers zu verzichten, weil sie Bach auf dem Cembalo nicht gehabt hatte.

Diese Unbefangenheit Kunstwerken früherer Zeiten gegenüber, die naturgemäß eine starke, eigene Kultur zur Voraussetzung hat, verliert sich aber immer mehr im 19. Jahrhundert; den Anstoß dazu hatte die Romantik gegeben, die zum ersten Mal die Gegenwart als inferior gegenüber einer reicheren Vergangenheit empfunden hatte. Nun, zum ersten Mal, empfindet man den historischen Abstand und versucht nicht mehr, die frühere Zeit der Gegenwart anzupassen; man ist bescheidener geworden und versucht umgekehrt, jene frühere Zeit als Gegensätzlichkeit, aus ihren eigenen Bedingtheiten zu begreifen. Wenn wir nun damit eine Einheit der Kultur aufgegeben haben (aus dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit heraus), die früheren Epochen selbstverständlich gewesen war, so ist das zwar ein Verlust, aber nicht nur ein Verlust; dem gegenüber steht eine ungeheure Bereicherung, mit der das viel und zu Unrecht geschmähte 19. Jahrhundert einen Vorsprung vor allen früheren hat: daß nämlich der Umkreis dessen, was der Mensch in sein geistiges Leben einzubeziehen fähig ist (wenigstens was die Kunst anbelangt), noch niemals so groß gewesen ist, wie in unserer Zeit; eine Bach-Renaissance im 18. Jahrhundert (angenommen, Bach hätte hundert Jahre früher gelebt) wäre ein unmöglicher Gedanke, während in unserer Zeit das geistige Leben von Hunderttausenden von Menschen auf der ganzen Welt nicht ohne ihn gedacht werden kann!

In unablässiger Bemühung arbeitete man daran, einen Schleier nach dem andern wegzuziehen, die Bachs Zeit unserem Blick verhüllt hatten; und heute steht die Welt Bachs mit einer Klarheit vor uns, daß wir etwa unsere Ablehnung der Czernyschen Bach-Auffassung nicht bloß gefühlsmäßig, sondern sehr deutlich begründen können. Diese Entwicklung der letzten hundert Jahre erlebt jeder abgekürzt in seiner eigenen musikalischen Bildung: er versteht Bach, etwa in seinen Inventionen, zunächst vom Standpunkt der üblichen Sonatinenmusik aus (die Folge ist da sehr oft ein Haß gegen die "schlechtklingende" Bachsche Musik); später lernt er im "Wohltemperierten Klavier" zunächst die Stücke lieben, die ihm romantisch vorkommen, dann ein paar monumentale, die er Beethovenisch auffaßt und dann erst kommt er zu Bach selbst! Ein anderer Weg ist nicht möglich, so merkwürdig das hier Gesagte klingen mag, denn man kann einen Abstand von zweihundert Jahren nicht auf einmal überspringen. Ähnlich wird z. B. von Bülow berichtet, daß er Bach in späteren Jahren wesentlich "einfacher" gespielt habe als früher, und als in seinen gedruckten instruktiven Ausgaben steht.

Wenn nun also jetzt das ästhetische Objekt, nämlich das musikalische Lebenswerk Bachs, seine doppelte Umsetzung im Spieler und Hörer, als den ästhetischen Subjekten erfährt, so haben diese den langwierigen, durch Generationen sich erstreckenden Prozeß der Einfühlung in diese Welt durchgemacht. Das heißt nun nicht, daß diese Gegenwart ihr eigenes musikalisches Leben dabei aufgeben könnte. Auch wenn wir uns jahrzehntelang mit Bach beschäftigen, können wir nicht verhindern, daß wir seine Harmonik, Eigenheiten seiner Rhythmik, vieles in seiner kontrapunktischen Technik anders empfinden, als die Zeit vor 200 Jahren; was wir aber fertig bringen können, ist, das, was von der klassischen und romantischen Musik der Bachschen Gefühlswelt schlechthin wesensfremd ist, ihr gegenüber auszuschalten, Bach nicht (nach einem drastischen Ausspruch d'Alberts) "mit einer Chopinschen Sauce piquante zu begießen". Daß aber die musikalische Erlebnisfähigkeit heute gegenüber dem Zeitalter Bachs eine ungleich größere ist, und daß wir daher Stücke, wie die chromatische Fantasie, oder die Orgelchoräle tiefer empfinden, als es damals möglich war, scheint mir sicher, obgleich ich es natürlich nicht beweisen kann und trotzdem das melodische Empfinden damals stärker war.

Die Rolle, die die Orgel in dieser Entwicklung gespielt hat, war zunächst weder glanzvoll, noch rühmlich, sie stand auf einem toten Geleise und die große Musikgeschichte zog an ihr vorbei; die Tradition des Bach-Zeitalters riß ganz ab und es hat wenig zu sagen, wenn die Franzosen behaupten, daß sie ihnen (u. a. durch Adolf Hesse, der 1844 in Paris war) überkommen und von ihnen weiter erhalten worden sei. Die herrschende Richtung bei den deutschen Organisten war gleichwohl konservativ (man lese Griepenkerls Vorrede zu den Orgelwerken im I. Band der Peters-Ausgabe); ein leidenschaftlicher Streit der Meinungen entsteht erst, als die Orgel beginnt seit etwa 30 Jahren den Vorsprung der übrigen Instrumente an Ausdrucksfähigkeit einzuholen; nun zeigte es sich, daß die ästhetische Schulung, die die Klavierspieler seit hundert Jahren durchgemacht hatten, dem Organisten gefehlt hatte; es kam die Periode der wilden Experimente mit schrankenloser Betätigung am Rollschweller und mit Fernwerk und anderen "Stimmungsmitteln", gegen die nichts einzuwenden ist, wenn man einer Lisztschen Fantasie damit Glänz und Farbe verleiht. Bald kam denn auch die Gegenwirkung: in puritanischer Entrüstung wurde die moderne Orgel als "Riesenorchestrion" gebrandmarkt und ihr jede Berechtigung zur Bach-Interpretation abgesprochen. Eine kleine, aber einflußreiche Partei suchte dabei die Überlegenheit des französischen Orgeltyps mit seiner scharfen Individualisierung der drei Klaviere und seines Zungenklanges zu beweisen. Nun kam Straube und was er auf der verpönten modernen deutschen Orgel leistete, war so über alle Begriffe, die man bis dahin gehabt hatte, daß erst mit ihm die neue Zeit der deutschen Orgelkunst anbricht. Natürlich hat aber die Straubesche Interpretation nur für ihn ihre Berechtigung; er ist eine sehr starke Persönlichkeit von ausgesprochener, lyrischer, ja wenn man will, mystischer Richtung, und was er durfte, durften deswegen seine Schüler noch nicht! Vielmehr sollten sie in dem unvergleichlichen Unterricht, den Straube gab, Bach zunächst durch das Medium der Persönlichkeit des Lehrers nur kennen lernen, um ihn dann später durch ihr eigenes geben zu können. Bei der ersten Generation von Straubes Schülern war das wohl im allgemeinen noch zu wenig der Fall gewesen, jetzt aber scheint die Selbständigkeit errungen zu sein. Straube hat vor 12 Jahren den berühmten zweiten Band der Orgelwerke bei Peters in seiner Interpretation erscheinen lassen, eine Ausgabe, in der er sich ein bleibendes Denkmal gesetzt hat und die alle gebildeten Musiker, nicht bloß die Organisten, studieren sollten. Einspruch muß man aber erheben gegen ihre billige Benützung durch bequeme Orgler, die glauben, durch diese Ausgabe, die bis ins Kleinste mit Vortragsanweisungen und Erläuterungen durchleuchtet ist, endgültig des eigenen Denkens über all diese Gegenstände enthoben zu sein. Im Gegenteil! Man sollte sie wohl bis ins einzelste studieren, aber niemals aus ihr spielen, denn die Suggestion im Straubeschen Sinn durch das Notenbild allein ist so stark, daß man sich ihr nicht entziehen kann. Ja, ich möchte noch weiter gehen und behaupten, daß es kein Zufall ist, daß seit 13 Jahren, trotz allen Drängens, noch kein weiterer Band erschienen ist: die Niederlegung all dieser, bis dahin nur für den Augenblick und mit der Möglichkeit jederzeitiger Modifikation entstandenen Ausdeutungen hat etwas Abschließendes, und ein so in jedem Augenblick produktiver Geist wie Straube muß fast mit zwingender Entwicklung von da ab eine neue Epoche beginnen, wie ja auch ein Komponist auf ein einmal fertiges Opus nicht wieder zurückkommt. Straube hat neue starke Eindrücke durch die Freiburger Praetorius-Orgel bekommen (auf der man natürlich Bach nicht spielen kann); wohin diese neue Entwicklung führt, kann heute noch nicht gesagt werden, doch scheint mir das von Günther Ramin herausgegebene Album berühmter Orgelkompositionen, das ein so ganz anderes Notenbild bietet, als Straube etwa in seinen "Alten Meistern des Orgelspiels" (deren Interpretation man, ganz allgemein wohl, heute nicht mehr folgen wird), symptomatisch zu sein für die Denkungsart des jüngeren Straube-Kreises.

Seit Albert Schweitzers Bach-Buch erschienen ist (1907), hat es natürlich nicht fehlen können, daß man versucht hat, Schweitzers "objektive" Auffassung gegen Straubes allzu "subjektive" auszuspielen. Wer daran im Ernst glaubt, der lese bei Schweitzer (S. 283) seinen Registrierentwurf zur a moll-Fuge aufmerksam durch: Schweitzer führt da die Fuge in vorsichtigen Übergängen vom ersten zum dritten Klavier hinauf (läßt dort sogar den Schwellkasten schließen!) und führt dann ebenso wieder zurück aufs erste Manual, was alles zwar in hohem Maß geist- und sinnvoll ist, aber nichts weniger als "objektiv" oder "echter Bach ohne fremde Zutat", wie man auch oft sagen hört, denn ganz gewiß hat Bach diesen Manualwechsel (abgesehen von allem andern) weder ausgeführt noch sich gedacht. Auch Schweitzers Bach ist subjektiv und kann nichts anderes sein, ebenso, wie es, nur wieder in anderer Richtung, ein anderer Großer, Straube Ebenbürtiger ist: Busoni.

So ist es also ganz unmöglich, praktische, allgemein gültige Anweisungen zum Vortrag der Bachschen Orgelwerke zu geben, und nur ein elender Handwerker kann solche erwarten. Was uns aber in der Musik noch fehlt, ist, daß nur ein ganz kleiner Teil von so vielen bedeutenden Musikern ihre Erfahrungen und Ratschläge fixiert haben, so daß andere daraus lernen könnten; also das, was in der Klaviermusik neuerdings Galston mit seinen "Studienbüchern" einzubürgern versucht hat. Der Organist, der nicht das Glück hat, durch einen verstehenden Lehrer in Bach eingeführt zu werden, hat zwar nicht viele, aber doch einige Möglichkeiten, diesen Mangel auszugleichen: er lese in Spittas einzigartigem Buch zum mindesten die von der Orgelmusik handelnden Abschnitte (in denen jedoch leider über den Vortrag fast gar keine Bemerkungen fallen), er lese Schweitzer ganz, der auch bei beschränkter Zeit leicht durchgearbeitet werden kann, er studiere das bloße Ansehen genügt nicht! in allen Einzelheiten bis herunter zur Artikulation und dem Fingersatz den von Straube herausgegebenen Band der Orgelwerke; sehr erwünscht wäre auch eine Bekanntschaft mit der von Schweitzer und Bonnet gemeinschaftlich veranstalteten Ausgabe der Orgelwerke bei Schirmer in New York, die leider in Deutschland bis jetzt nur sehr wenig bekannt geworden ist, aber, weniger ihrer zahlreichen Druckfehler, als ihrer zum Teil ganz trefflichen Vorbemerkungen zu den einzelnen Werken beachtet zu werden verdient; wenn der Organist neben einer unablässigen Bemühung um die praktische Aneignung dieser Musik, wozu auch bei großer Begabung eine Reihe von Jahren harter Arbeit die Voraussetzung bildet, noch diese Ratgeber befragt, dann hat er Aussicht, für sich allein wenigstens die Frage nach der Wiedergabe der Orgelwerke Bachs beantworten zu können. Mehr aber auch nicht. Der Bach der Schwaben ist ein anderer als der der Straßburger oder der Leipziger, der Bach der heutigen Jugendbewegung ein anderer als der der offiziellen Musikstätten, der Bach, der für Lübeck und Buxtehude begeisterten Ugrinoleute ein anderer als der eines Geigers der Joachimschule, kurz: Eines schickt sich nicht für alle, sehe jeder, wie er's treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und, wer steht, daß er nicht falle!





Quelle:
Neue Musikzeitung
45. Jahrgang 1924, 1. Juli-Heft