1926 · Eine neue Epoche der Orgelmusik

Neue Musik-Zeitung

Die jüngstvergangene Epoche der deutschen Orgelmusik läßt sich fast ausschließlich in dem einzigen Namen Max Reger ausdrücken. Er war der große Erneuerer, der die Orgel, die über ein Jahrhundert lang abseits der großen Strömungen der Musik ein bescheidenes, ja manchmal kümmerliches Dasein gefristet hatte, wieder in den Brennpunkt des musikalischen Interesses gerückt hatte: da waren noch unverbrauchte Wirkungen nach so langer Ruhezeit, während Klavier und Orchester bis an die Grenze ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beansprucht zu sein schienen. Es ist bekannt, daß aber schon die nächste Zeit bewiesen hat, wie wenig von einer Erschöpfung der Ausdrucksmittel gesprochen werden durfte: die Kammermusik, besonders die ohne Klavier, suchte sich neue Wege, ein neuer Orchesterstil mit bewußter Abwendung sowohl von Wagner-Straußischen, als von Brahms-Regerischen Klangidealen wurde gefunden, in der Vokalmusik erlebte man ein deutliches Verlegen des Schwerpunkts vom Lied weg zum unbegleiteten Chorgesang, und während so auf fast allen Gebieten der Wille zu einer neuen Gestalt der Musik deutlich sichtbar ward (mochte man auch über den Wert des bis jetzt Erreichten skeptischer Ansicht sein), so schien die Orgel das einzige Gebiet, auf dem die Hegemonie Regers sich unvermindert behauptete. Noch vor drei Jahren konnte ich in meiner kleinen Schrift über die Orgelwerke Regers schreiben: "Die mächtige Welle Reger-Straube hat uns so weit getragen, daß uns die nächste, die sonst alle Gebiete der Musik schon überflutet und zugedeckt hat, noch gar nicht erreicht hat." Heute ist diese Welle da, und heute kann man mit Sicherheit sagen, daß für Deutschland die Regersche Epoche der Orgelkunst endgültig als abgeschlossen (nicht als abgetan!) angesehen werden kann.

Der neue Anstoß kommt von völlig anderer Seite, als auf allen übrigen Gebieten der Musik. Zunächst äußert er sich in einer scharfen Kritik am Instrument selbst. Es tritt der für die Instrumentengeschichte der letzten hundert Jahre wohl beispiellose Fall ein, daß es klingt wie ein Hohn auf die Phrase von der "Königin der Instrumente" ein Instrument, das neben Klavier und Violine im höchsten Ansehen stand, nun plötzlich alle modernen Errungenschaften als Irrtum ansehen und mit seiner Entwicklung wieder da ansetzen sollte, wo das 17. Jahrhundert aufgehört hatte. Das wenigstens ist das Glaubensprogramm des radikalen linken (oder soll man sagen rechten?) Flügels des "Bundes entschiedener Orgelreformer", den die Gruppe darstellt, als deren Führer Hans Henny Jahnn und die Ugrinogemeinde angesehen werden kann, und denen zum mindesten das große Verdienst zukommt, an der Hamburger Jakobiorgel das Klangideal der Orgeln des 16. und 17. Jahrhunderts geradezu wieder neuentdeckt zu haben. Durch die Hamburger Organistentagung im Juli dieses Jahres ist diese Bewegung ja auch weiteren Kreisen bekannt geworden, und es soll hier nicht die Rede davon sein, was man von ihr für die Wiedererweckung der alten Orgelmusik vor Buxtehude erwarten darf (wahrscheinlich alles), sondern welcher Art die Angriffe sind, die von dort aus auf die heutige Orgel gerichtet werden. Dem berauschenden silbernen und doch nie aufdringlichen Mixturklang dieser alten Orgeln mit ihrer scharfen Charakterisierung der Manuale und ihrer präzisen Ansprache wird der verschwommene, bald dünne, bald dicke, plumpe Klang der modernen pneumatischen Orgel mit ihrer Häufung von Registern und all ihren Vorrichtungen zu einem ausdrucksvollen Spiel als abschreckendes Beispiel gegenübergestellt. Während Reger noch in einem Brief voll Stolz schreiben konnte, er hoffe zu zeigen, daß die Orgel nicht bloß ein Kircheninstrument, sondern ein "Konzertinstrument allerersten Ranges" sei, lesen wir bei Jahnn: "Die Orgel ist nicht für den Virtuosen geschaffen, daß er von einem leichtgläubigen Publikum Anerkennung erfahre, sie ist ganz und gar nicht eine Ansammlung von Instrumentennachahmungen." Noch zorniger drückt sich der Wiener Komponist Franz Schmidt aus, dessen Vorwort zu seiner 1924 erschienenen Phantasie und Fuge D dur so ergötzlich zu lesen ist, daß es hier im Wortlaut wiedergegeben werden soll: "Durch meine Symphonien und sonstigen Werke, in denen ich mich ausschließlich des großen Orchesters bedient habe, glaube ich mir einige Satztechnik angeeignet und im differenzierenden Hören genügend Fortschritte gemacht zu haben, um es wagen zu dürfen, nun auch der Königin der Instrumente ein Werk meiner Komposition darzubringen. Es ist mir von größter Wichtigkeit, festzustellen, daß ich die Königin der Instrumente im Sinne habe, wie man sie noch als Reste einer hohen Musikkultur in Kathedralen findet, nicht etwa jenes kraftlos brüllende Ungeheuer, welches sich in den heutigen Konzertsälen breit macht und allenthalben als ,moderne Orgel' bezeichnet wird. Für letztere würde ich niemals eine Note geschrieben haben, denn das bloße Anhören eines solchen mit allen den modernen Errungenschaften' ausgestatteten Instrumentes bereitet mir Qual und Ekel. Ist es doch ein Klangbastard, entstanden aus dem unglückseligen Bestreben, alle möglichen Instrumente nachahmende Register in die Orgel einzubauen, Orchestereffekte nachzuahmen u. dergl., ein Klangbastard, der ebenso weit von der wahren Orgel wie vom Orchester entfernt, völlig ungeeignet ist, Original-Orgelkompositionen so wiederzugeben, wie ihre Schöpfer sie gedacht und gehört haben und ebenso ungeeignet, das Orchester auch nur irgendwie zu ersetzen. Die für dieses Instrument entstandene und im Entstehen begriffene Literatur bereichern zu wollen, liegt mir so ferne, als nur irgend möglich. Ich muß mich aber mit dem jetzt allgemein verbreiteten Bestreben der Organisten auseinandersetzen, alle jene Errungenschaften der modernen Orgel (jede Orgelbaufirma hat deren eigene und andere!) auf jeden Fall und um jeden Preis und in jedem Werk vorzuführen. Man nennt dies Registrierkunst. Ich habe meine Wünsche bezüglich der Registrierung in allgemeinen Zügen, aber vollkommen deutlich im Notentext eingetragen. Sollte also mein Werk auf einer modernen Orgel wiedergegeben werden müssen, so hat der Organist im voraus alle jene lächerlichen und geschmacklosen Vorrichtungen auszuschalten, die die Orgel zum Orchestrion heruntergebracht haben, als da sind: Jalousieschweller zu Crescendozwecken, Fernwerk, Glockenspiel und ähnliches. Zungenstimmen sind nur an den bezeichneten Stellen zu verwenden und nur dann, wenn sie nicht ordinär klingen. Wenn solchermaßen alles ausgeschaltet ist, was die Orgel zur Nichtorgel macht und das übrigbleibende nur ein kläglicher Rest sein sollte, so ist daraus die Konsequenz Zu ziehen, meine Musik als für dieses Instrument nicht geeignet anzusehen (oder auch umgekehrt) und die Aufführung zu unterlassen."

Das läßt wenigstens an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig! Auch einige Worte Jahnns mögen hier noch stehen:

"Ich muß mich auf die Meinung zurückziehen, die ich von dem Instrument Orgel habe. Ich fasse sie auf als einen Organismus zur Hervorbringung musikalischer Klänge, die als irdischer Leib die Seele ewiger Musiken aufnehmen sollen. Die Musik, der ich sie untergeordnet fühle, ist kultisch, deshalb ist der Platz einer Orgel an einer Kultstätte zu denken. Ich habe mich für Cabezon, für Merulo, für Scheidt und wie sie alle heißen mögen, entschieden, und nicht für die gottlose Musik, die in dem Schaffen der vergangenen Jahrzehnte entstanden ist. Ich habe dabei die große Hoffnung, daß die jungen Kräfte, unter denen sich die Musik auswirken soll, nicht ferne stehen jener Meinung, die mich begeistert zu den Orgelwerken so ausgeprägter Organisationen, daß sie schon plastisch das Abbild der gesamten Klangwelt sind, in ihrem Reichtum also jede Möglichkeit des Ausdrucks umfassen."

Solche Anklagen gegen die moderne Orgel auszusprechen, heißt zum Teil schon, sie als berechtigt anerkennen. Letzten Grundes besagen sie nichts anderes, als daß unserer Zeit mit einer geradezu erschreckenden Klarheit die Einsicht gekommen ist (die das teils romantische, teils materialistische 19. Jahrhundert nicht haben konnte), wie sehr unserer Zeit seit ungefähr zweihundert Jahren die schöpferische Kraft im Religiösen verloren gegangen ist. Es ist ganz undenkbar, daß noch einmal eine Matthäuspassion geschrieben werden könnte, ebensowenig, wie niemand mehr imstande sein wird, etwas wie das Straßburger oder das Freiburger Münster zu bauen, und ebenso liegt es auf der Hand, daß wir keine solchen Orgeln mehr haben können, wie das gotische und nachgotische Zeitalter. Die Orgel hat genau dieselbe Verfallskurve aufzuweisen, wie alle übrigen großen Formen religiösen Empfindens etwa seit 1700. Schon den Herrnhutern ist es nicht mehr gelungen, ihrer Religion einen Ausdruck in der Kunst zu verleihen, noch weniger dem Methodismus oder den Gemeinschaftsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sicher ist aber auch, daß die Kurve, die die Kunst in immer weiteren Abstand von der Religion geführt hat, auf ihrem Umkehrpunkt angelangt ist und wieder zu steigen beginnt. Wenn man uns nun hier als Richtung und Ziel die alte Zeit mit ihrer ungebrochenen Kraft wieder zeigt, so ist es zwar sicher heilsam, strenge konzessionslose Forderungen aufzustellen, praktisch, glaube ich, ist der Weg aber nicht gangbar. Man stelle sich eine nach dem Orgeltyp von 1650 rekonstruierte Orgel in einer modernen Kirche mit moderner Predigt oder gar in einem Saal vor, und man wird die ganze Unhaltbarkeit einsehen. Natürlich ist es von größter Wichtigkeit für die Wiedergabe der alten Musik, daß die Organisten, die Musikwissenschaftler und in historischen Konzerten gelegentlich auch das Publikum erfahren und zu hören bekommen, wie diese Musik geklungen hat, d. h. mit anderen Worten, das Verhältnis dieser Orgeln zu den modernen muß dasselbe sein, wie etwa das des Cembalos zum modernen Flügel. Es gibt auch da Fanatiker, die für Bachs Klaviermusik das Cembalo, bzw. das Clavichord für das alleinmögliche Instrument halten, aber man geht über sie zur Tagesordnung über, betrachtet das Cembalo als eine selten zu genießende Delikatesse und spielt das Wohltemperierte Klavier auf einem Bechsteinflügel.

Die Aufgabe, zeitlich entfernt liegende Musik zu übertragen, kann ja überhaupt niemals restlos gelöst werden. Man kann sie von zwei entgegengesetzten Seiten her, von ihren beiden Endpunkten aus anpacken: Der einfachste Weg scheint der, sie vollständig in die moderne Gefühlssphäre zu projezieren. Das hat z. B. Straube getan und damit für weite Kreise überhaupt erst wieder das Interesse an dieser Musik geweckt. Das Publikum war nur auf diese Weise zu der Erkenntnis zu bringen, daß diese alten Fugen und Passacaglien ja auch "Musik" seien. Viele verstanden das wohltemperierte Klavier erst, als es Reger spielte. Selbstverständlich kann man aber bei dieser Interpretation nicht stehen bleiben, sondern, nachdem man einmal Kontakt mit dieser Musik genommen hat, erhebt sich die Frage vom anderen Ende her: wie hat diese Musik damals geklungen, wie hat sie sich ihr Schöpfer vorgestellt? Antwort: ganz anders, als wir sie heute spielen. Also muß der Musiker an die schwere Aufgabe gehen, seine Interpretation nach diesen Erkenntnissen zu korrigieren, sie mit dem Geist der damaligen Zeit, wie wir ihn heute erkennen oder zu erkennen glauben, in Einklang zu bringen. In jedem Falle wird es ein Kompromiß bleiben, er kann wissenschaftlich richtig, aber künstlerisch kühl spielen, oder er kann die künstlerische Gestaltung in die erste, die historische Treue in die zweite Linie stellen.

Von diesen Gedanken kehre ich zum modernen Orgelbau zurück: Die Orgeln des 17. Jahrhunderts und des Bachschen Zeitalters können unserer heutigen Zeit zum Regulativ dienen, aber es muß zu einer Synthese mit dem Musikempfinden der Gegenwart kommen, wenn eine lebendige Entwicklung daran ansetzen soll. Das heißt nicht, von der reinen Höhe idealer Forderungen in die Niederung der Kompromisse herunterzusteigen, sondern das Recht des organisch Gewordenen und Gewachsenen achten. Sicherlich hat der neuere Orgelbau ein langes Sündenregister aufzuweisen; Schuld daran tragen weniger die Orgelbauer, die sich ihren Auftraggebern angepaßt haben, als der völlige Verfall der Orgelkunst im 19. Jahrhundert, und die Gemeinden, die sich mit schlechten billigen Instrumenten begnügten. Man vergleiche nur einmal ein Orgelgehäuse aus der Zeit des Barock mit einem des 19. Jahrhunderts, um zu sehen, mit welchem Aufwand an Pracht und Kosten die Kirche damals noch ihre Liebe zur Orgel auch äußerlich bekundete und wie ärmlich die Fabrikverzierungen des 19. Jahrhunderts sich dagegen ausnehmen. Es ist aber Sache des Organisten, mit ihren Orgeln unzufrieden zu sein und an die Orgelbauer höhere Forderungen zu stellen, diese bei den Kirchengemeinden zu vertreten und dem Orgelbau die Wege zu zeigen, die er gehen soll und ihn vom eingeschlagenen Holzwege abzubringen! Die technische Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte mit all ihren Spielhilfen ließen vor all den seither ungeahnten Möglichkeiten einer fast schrankenlosen Herrschaft über den Klang der Orgel übersehen, daß nicht die Verwendbarkeit des Klanges, sondern der Klang selbst für eine Orgel entscheidend ist. Heute sind wir so weit, daß eine gewisse Stabilisierung in der Spieltischanlage der modernen Orgeln eingetreten ist; zwar steht Deutschland immer noch isoliert gegen die völlig anderen Spieltische von Frankreich, England und Amerika, aber es besteht bei den Spielern kein Bedürfnis mehr nach noch mehr oder wesentlich anderen Hilfsmitteln zum Registrieren. Dafür rückt die Frage nach dem Orgelklang entscheidend in den Vordergrund. Kein Zweifel, daß die meisten unserer Orgeln zu dick, zu stumpf, zu "holzig" klingen. Die englischen Orgeln mit ihrer großen Anzahl heller, metallener Prinzipale sind unseren darin überlegen, dagegen kann ich mich für den Zungenklang der französischen Orgeln weniger begeistern. Ferner ist mir, als ich vor einigen Monaten die Orgel in der Breslauer Jahrhundertfesthalle kennen lernte, instinktiv zur Gewißheit geworden, daß diese Häufung von Registern (die Breslauer hat 200, aber es gibt schon größere, Liverpool z. B. mit 211) vollkommen sinnlos ist: Das einzelne Register bedeutet zu wenig, und der Gesamtklang dieser zweihundert ist in der Riesenhalle durchaus nicht von überwältigender Wirkung, wogegen z. B. die neue (noch nicht ausgebaute) Orgel der Westminster-Kathedrale in London mit nur 40 Registern, einen riesigen Raum vollständig füllt. Wenn Jahnn in jahrelangen Untersuchungen über die Mensurverhältnisse der Pfeifenreihen der alten Orgeln dem Geheimnisse ihrer Schönheit auf die Spur gekommen ist, so wollen wir Organisten unser Möglichstes tun, diese Erkenntnisse dem heutigen Orgelbau nutzbar machen zu helfen, ohne aber deshalb in den Ruf "zurück zur Orgel des 17. Jahrhunderts" mit einzustimmen.

Auf einige spezielle Angriffe gegen die moderne Orgel möchte ich hier noch eingehen.

Erstens: sie klinge dick, unklar, sie sei ungeeignet für polyphones Spiel, wogegen beim Mixturklang der alten Orgeln alle Mittelstimmen von selbst deutlich heraustreten sollen. Um mich von der Wahrheit dieser letzteren Behauptung zu überzeugen, habe ich im September eine Studienfahrt ins Elsaß gemacht, wo mir Dr. Johannes Müller ein treuer Führer zu den im Elsaß noch vorhandenen Orgeln aus der Zeit Bachs (Thomaskirche in Straßburg, Colmar, Mauersmünster u. a.) gewesen ist. In dem wundervollen Raum der romanisch begonnenen, gotisch vollendeten Abtei Mauersmünster steht ein (in Süddeutschland vielleicht das einzige!) vollkommen unangetastet gebliebenes Orgelwerk des Andreas Silbermann aus dem Jahr 1710, mit drei Manualen und folgender Disposition:

Hauptwerk (mittleres Manual):
Bourdon 16'
Bourdon 8'
Montre 8'
Cornet 8' (von C" ab)
Voix humaine 8'
Trompette dessus 8'
Trompette basse 8'
Prestant 4'
Clairon dessus 4'
Clairon basse 4'
Nazard 2 2/3
Doublette 2'
Tierce 1 3/5
Fourniture
Cymbel
Tremblant

Positif (unteres Manual):
Cromorne 8'
Montre 8'
Bourdon 4'
Nazard 2 2/3
Flute 2'
Doublette 2'
Fourniture

Regal (oberes Manual):
Bourdon 4' (von C" ab)

Pedal:
Trompette 16'
Bombarde 16'
Prestant 8'
Bourdon 8'

Daß dieses Werk unangetastet geblieben ist, läßt sich nur daraus erklären, daß Mauersmünster ein Dorf von nur ein paar hundert Einwohnern ist, das von modernisierenden Orgelrevisoren verschont blieb! Die Orgel steht etwa einen Ganzton tiefer als unsere heutige Kammerstimmung, und ihr Klang ist in der Tat anders, man darf sagen: wesentlich schöner als der unserer modernen Orgeln. Besonders angetan hat es mir der helle, beschwingte Klang des Rückpositivs, mit nur einem 8' (abgesehen von der Zungenstimme), einem 4', einer Quinte 2 2/3', zwei 2'(!) und einer Mixtur klingt es voll, rauschend, aber nicht schreiend, so daß es eine Lust ist, Bachsche Toccatenläufe darauf zu spielen. Die Ansprache ist so leicht, daß man fast dasselbe Tempo nehmen kann wie auf modernen Orgeln. Das volle Werk erfüllt den großen Raum ganz, im mf und f macht die Registrierung des Pedals, zu dem es keine Koppel gibt, und das außer den starken Schnarrwerken nur zwei 8'-Stimmen hat, einige Schwierigkeit. Das dritte Manual entsprechend den tragbaren kleinen Instrumenten, den "Regalen", nur von c' an besetzt, ist nur gelegentlich für einen Sopran-cantus-firmus benutzbar. Das Rückpositiv steht bei den meisten älteren elsäßischen Orgeln, die ich sah, in der Tat im Rücken des Organisten (auch die Registerzüge befinden sich da) und hat seinen eigenen kleinen Prospekt an der Brüstung der Empore.

Diese Orgeln lehren uns, daß die Wirkung eines Orgelwerkes einmal vom Raum abhängt (der französische Orgelbauer Cavaillé-Col erklärte, mit einer Orgel von 40 Stimmen die größte Kathedrale füllen zu können, wenn man um jede Pfeife herumgehen könne; unsere deutschen Orgeln stehen dagegen meistens zu eng und zu gedrückt), sodann, daß Material und Mensur der Pfeifen eine größere Rolle spielen, als das 19. Jahrhundert gewußt oder beachtet hatte, ferner, daß unsere Orgeln auf den Mixturklang verzichten müßten, weil sie unter höherem Winddruck stehen, als die alten (schon Schweitzer hatte auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, neuerdings hat ihn auch wieder Jahnn in den Vordergrund gestellt), und daß dies ein schlechter Tausch war, und schließlich, daß unser deutscher Orgelbau (nicht der französische) den Unterschied im Charakter der drei Manuale zu sehr verwischt hatte; er erfand, wie Jahnn ironisch bemerkt, die Steigerung "laut schwächer am schwächsten".

Ein Teil des Vorwurfs, daß die moderne Orgel zu dick klinge, fällt aber auf die Literatur zurück: dick klingt auf ihr nicht eine Bachsche Fuge, wenn sie sinnvoll registriert wird, sondern der Orgelsatz Max Regers, mit seinen zahllosen Verdoppelungen; sein B A C H, in Mauersmünster vorgetragen, würde ein sinnloses Geschrei sein; je mehr Mixturklang, desto durchsichtiger muß der Satz sein. Auch in diesem Punkt stellt sich übrigens das heutige Schaffen in bewußten Gegensatz zu Reger.

Die Reformbewegung verpönt auch den Jalousieschweller (s. o. das Vorwort Franz Schmidt's); der war aber schon zu Händels Zeit in England im Gebrauch und darf meines Erachtens für alle Musik, die nicht mehr auf dem Boden der reinen Echo-Dynamik des 17. Jahrhunderts steht, angewendet werden, z. B. für eine so extrem moderne Musik wie Bachs Choralvorspiele, nicht dagegen für Buxtehude oder weiter zurück für Scheidt. Vollends gar Schmidts Fantasie und Fuge D dur ist so gemäßigt romantisch, daß der Verzicht auf den Jalousieschweller dem Werke sicherlich nicht nützt, wie ja überhaupt in der Orgelmusik alle kategorischen Registriervorschriften nur von Schaden sind. Wieder andere wenden sich gegen die Verwendung schwebender Register (Voix Celeste) als süßlich und bedenken nicht, daß die alten Orgeln (z. B. Mauersmünster) Tremolo fürs ganze Werk hatten; aus derselben inneren Trockenheit und Nüchternheit, aus der man den Mixturklang aufgab, hat man das Vibrieren des Tons als geschmacklos beseitigt. Und das Fernwerk? Gewiß eine lächerliche Spielerei unter den Händen Unberufener, bei richtiger sparsamer Anwendung, da wo es hingehört (z. B. am Schluß der Lisztschen Variationen über "Weinen, Klagen") von erhabener Wirkung, der sich nur ein dürrer Rationalist entziehen kann. Glockenspiel? ist Mode in England und Amerika, gehört nicht zu deutschen Gepflogenheiten, aber auch da halte ich es für anmaßend, den eigenen Geschmack als verbindlich für alle hinzustellen.

Die Orgel soll "als irdischer Leib die Seele ewiger Musiken aufnehmen". Etwas von dieser Seele ist aber auch in Regers Choralphantasien, und die sind nur auf den modernen Instrumenten darstellbar, die Jahnn so verurteilt. Man müßte dann schon so konsequent sein, Regers Musik mit zu verurteilen.

So glaube ich also nicht, daß wir die elektropneumatische Traktur mit ihrer unvergleichlich präzisen Ansprache, den Jalousieschweller und all die modernen Registrierhilfen einem modernen Asketentum opfern werden, wohl aber, daß der Ruf "weg von der modernen Fabrik- und Kinoorgel" einen sehr bitteren Kern von Wahrheit enthält. So wie jede Epoche die Regierung und die Zeitungen hat, die sie verdient, so hat auch das neunzehnte Jahrhundert die Orgeln gehabt, die es verdiente, das zwanzigste verdient bessere und verlangt sie. Die Regersche Epoche in der Orgel ist auf allen Gebieten zu Ende, die neue Generation stellt neue Forderungen und zwar zunächst an sich selbst, sie sucht teils eine kühlere, klarere Gestaltung, als sie den chaotisch wogenden Phantasien Regers eigen ist, teils Anschluß an den romantischen religiösen Monumentalstil Bruckners.

Diese beiden Pole stellen sich mir dar in den beiden Namen Heinrich Kaminski und Franz Schmidt.

Von Kaminski besitzen wir bis jetzt nur ein einziges Werk für Orgel (eine dreisätzige Choralphantasie ist im Entstehen begriffen): eine Toccata (Universaledition). Ich sehe in ihr den ersten sicheren weittragenden Schritt in das musikalische Neuland hinein. Ich glaube nicht an die Größe Hindemiths, aber ich glaube, daß man die Toccata Kaminskis noch in 15 Jahren (das ist für die Zeitrechnung der modernsten Musik eine erschrecklich lange Zeit) spielen wird! Auch Kaminski verbietet die Anwendung des Jalousieschwellers und der Crescendowalze, wie überhaupt jede "Farbigkeit" im Registrieren; sein linearer Stil hat eine kühne weitgespannte Melodik, seine Harmonik ist weder atonal noch in Regerscher Art chromatisch tonal; die Toccata leitet von ferne her auf den Choral "wie schön leucht' uns der Morgenstern" zu, mit dem sie in glänzender Figuration ausklingt, ohne aber den Versuch zu machen, auf den Gefühlsgehalt des Chorals so einzugehen, wie Reger in seiner berühmten großen Phantasie; nach der sehr großen Weichheit Regers in der Art, wie den kleinsten melodischen und harmonischen Beziehungen nachgegangen wird, ist nun hier, ein Bild der neuen Zeit, eine kühlere, strengere, mehr willensbetonte Sachlichkeit.

Ganz im Gegensatz zu diesem strengen, reichsdeutschen Stil Kaminskis steht der österreichische Romantiker Franz Schmidt, der vor einem Jahr die oben erwähnte Phantasie und Fuge D dur (Verlag Kern, Wien) erscheinen ließ, die aber in der Fuge allzu weitschweifig geraten ist; kurz darauf folgte eine Toccata in C dur, bei der man etwa an Schumanns C dur-Toccata für Klavier denken kann, beide Werke sehe ich aber nur als Vorstufen an zu einem jüngsterschienenen Präludium und Fuge in Es dur (Verlag Leuckart), das nicht weniger als 47 Seiten lang ist und eigentlich Symphonie für Orgel heißen müßte. Man bedauert mit Recht, daß wir von Bruckner keine großen Orgelwerke haben; wie vieles in seinen Symphonien ist nichts anderes als verhüllte Orgelmusik, aber für eine Orgel von einer Pracht und Schönheit, wie es sie heute noch nicht gibt und auch nie gegeben hat! Nun hat mit Franz Schmidt (den ich aber damit nicht zum Bruckner-Epigonen stempeln möchte) zum erstenmale in der Geschichte der Orgelmusik, der Strom der großen Symphonien die Gefilde der Orgel befruchtet. Schmidt wird nicht der einzige bleiben, andere werden nachfolgen; es ist heute nicht mehr an der Zeit, Passacaglien, Doppelfugen, Choralfigurationen, zu schreiben, sondern was wir brauchen, ist eine große Wärme bei aller Klarheit und Reinheit, und ich kann nicht sehen, wo anders sie herkommen soll, als von der Welt der Symphonien Bruckners. Nachdem Schönberg gezeigt hat, daß es möglich ist, die Musik bis zum Punkt völliger Zersetzung zu bringen, und heute die Neugierigen um das Experiment herumstehen und feststellen, daß die Zersetzung so restlos gelungen ist, daß endgültig kein Leben mehr aus diesem zerstörten Organismus zu erwarten sei, erinnert man sich vielleicht, daß in demselben Wien ein Menschenalter vorher Anton Bruckner gelebt hat, und da die Orgel von der jüngsten Wiener Schule gemieden worden ist (aus begreiflichen Gründen), so wird sie nun diesen Anschluß an die Adagiosätze Bruckners um so leichter finden. Die Hörer sind da, einem solchen Werk zuzujubeln, wie der sensationelle Erfolg der Erstaufführung des Schmidtschen Werkes gezeigt hat, auch die Spieler werden sich finden, die, von Reger herkommend, neue Steigerung der technischen Schwierigkeiten antreffen, wenn nur erst die Komponisten da sind! Vielleicht aber ist es ein Vorzug, daß in der Orgelmusik die Verwirrung der Fülle von Namen, wie sie auf den modernen sogenannten Musikfesten auftauchen, noch nicht gibt.

Als viertes Orgelwerk Franz Schmidts erschien, ebenfalls bei Leuckart, Variationen und Fuge über ein eigenes Thema (Königsfanfaren aus der Oper Redegundis) in D dur, vor dem Präludium und Fuge Es dur entstanden, und dessen Höhe noch nicht ganz erreichend, aber ein festliches, farbenreiches Stück.

Noch ein anderer Oesterreicher ist hier zu nennen, der direkt an Bruckner anschließt, das ist der Salzburger Joseph Messner, dessen "Improvisation über ein Thema von Bruckner" (Universaledition) das Thema aus der f-moll-Messe: "Et vitam venturi saeculi" zwar interessant und farbenreich, aber nicht ganz mit der inneren Größe Schmidts durchführt.

Ein Werk, das ganz außerhalb der oben beschriebenen Strömungen steht, eigentlich noch zur Reger-Nachfolge zu nehmen ist, aber doch auch wieder weit über diesen Begriff hinausführt, ist die Orgelphantasie von Adolf Bosch über Joh. Seb. Bachs Rezitativ aus der Matthäuspassion "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen" und den Choral "Aus tiefer Not schrei ich zu Dir." Es wird wohl wenig schwerere und zugleich undankbarere Stücke geben und ich selbst habe erst nach mehrmaligem Vorspielen durch den ausgezeichneten Prager Organisten Nowakowski einen Begriff von der inneren Größe dieses Werks bekommen. Es sind Stellen darin, die Regers Inferno-Phantasie noch überbieten, und bei denen man wahrhaft apokalyptische Visionen haben kann. Aber nicht alles ist gleichmäßig inspiriert und in dieser Dicke des Satzes, in dieser Häufung von Dissonanzen ist ein seitenlanges Fortissimo der Orgel für den Hörer schlechthin unerträglich, und ich glaube daher nicht, daß sich diese Phantasie viele Freunde erringen wird. Ein sehr starkes Werk ist sie aber trotzdem, und wenigstens die Fachorganisten sollten sich ihrer mehr annehmen, als es bis jetzt geschehen ist.

Noch sei von zwei Werken die Rede, die ich selbst kürzlich aufgeführt habe, einer Kirchensonate für Violine und Orgel, Op. 62 (Verlag Schott) von Joseph Haas und einer Orgelsonate in g moll, Op. 23 (Manuskript) von Wilhelm Kempff. In der Haasschen Sonate, die eigentlich gar keine Sonate ist, sondern eine ganz in zarteste Weihnachtsstimmung getauchte Improvisation über die gregorianische Melodie "Jubilate" und das Weihnachtslied "In dulci jubilo", sehe ich nicht mehr und nicht weniger, als die erste vollgültige Originalkomposition für Violine und Orgel überhaupt. Sie ist zudem kurz und nur mittelschwer, und so glaube ich, daß sie bald landauf, landab in Kirchenkonzerten gespielt werden wird, und wenn nach einer früheren, veralteten Anschauung die Musik dazu da sein soll, den Menschen Freude zu machen, so wird die Haassche Sonate ihren Zweck erfüllen.

Die Sonate von Kempff hat starke Stellungnahme für und wider ausgelöst und das ist jedenfalls ein Beweis für ihre lebendige Wirkung. Man tut ihr Unrecht, wenn man in ihr nur ein Erzeugnis einer virtuosen Spiel- und Kompositionstechnik sieht, vielmehr spricht aus ihr ein starkes, einerseits religiös verankertes, andererseits mit Jugendmut in die Welt hereinspringendes Erleben, so daß dieses Werk, das stärkste und konzentrierteste, was ich bis jetzt von Kempff kenne (es dauert nur 14 Minuten!), neben den oben besprochenen Werken von Kaminski, Schmidt, Meßner, Busch mit ganz eigener Physiognomie dasteht.

Ich habe nur einige wenige Namen genannt, die mir Träger einer neuen Gesinnung zu sein schienen, ein anderer hätte wahrscheinlich eine andere Auswahl getroffen. Aber eine Stellungnahme zur jüngsten Musik kann ja nie anders als ganz persönlich sein; keineswegs war es meine Absicht, einen Ueberblick über das Orgelschaffen der Gegenwart zu geben, sondern die neuen Bahnen zu zeigen, die die Orgelkunst in jüngster Zeit mit Entschiedenheit eingeschlagen hat.





Quelle (in 2 Teilen erschienen):
Neue Musikzeitung
47. Jahrgang 1926, 1. und 2. Januar-Heft