1929 · Gedanken zu der heutigen Musik

Festschrift TH Stuttgart

"Die Geschichte der Musik ist die Geschichte der Dissonanz." Von den Dreiklangsfolgen PALESTRINAS über die kühnen und doch gebundenen Dissonanzen BACHS zu der Leidenschaftlichkeit BEETHOVENS, zu der Tonsprache von Tristan und Isolde und weiter zu der harmonischen Chromatik REGERS und der Salome von RICHARD STRAUSS und schließlich bis zum Zerbrechen der letzten harmonischen Bindungen in den Versuchen der sogenannten atonalen Musik der Gegenwart führt eine, oberflächlich gesehen, lückenlose Entwicklung der Harmonik der letzten vierhundert Jahre, in der die Sprache der Tonkunst immer neue Ausdrucksgebiete gesucht und damit immer neue Reiche der Dissonanz sich einverleibt hat. Von allen Künsten verfügt ja die Musik über das empfindlichste Material, das sich durch den Gebrauch in einer einzigen Generation schon abstumpfen kann und wenigstens teilweise ersetzt werden muß. Es leuchtet nun ein, daß ein schwächerer Reiz stets durch einen stärkeren ersetzt zu werden pflegt, und wir alle können an eigenen musikalischen Erlebnissen feststellen, daß Werke, die uns vor zwanzig Jahren als an der Grenze des Auffassungsvermögens zu liegen schienen, heute schon als gemäßigt vorkommen; ebenso wissen wir aus der Musikgeschichte, daß gerade diese ungewohnte Erweiterung des Dissonanzbegriffs es gewesen ist, deretwegen seinerzeit die Tonsprache des Tristan, früher die der Eroica, ja selbst die der Mozartschen Streichquartette für verworren und ungenießbar erklärt worden war. Liegt es da nicht sehr nahe, zu folgern, daß es auch mit der heutigen Musik, gegen die diese Vorwürfe ja in erhöhtem Maße gerichtet werden, ebenso gehen werde, daß wir in zwanzig Jahren (oder je nach persönlicher Auffassungsgabe schon früher) für zahm und akademisch erklären werden, was uns heute unverständlich und revolutionär vorkommt? Und so weiter ohne Ende, denn das Reich der Dissonanz, des Auseinanderklingens ist unbegrenzt?

Ist es aber wirklich unbegrenzt? Und hat sich die Musik tatsächlich stetig nach der Seite der Dissonanz hin entwickelt? Von der Beantwortung dieser beiden Fragen hängt eine objektive, überpersönliche Beurteilung der heutigen Lage der Musik ab; die erste Frage ist theoretischer, die zweite geschichtlicher Natur, mit ihr soll begonnen werden.

Konsonanz ist Ruhe, Entspannung, Dissonanz ist energetische Spannung; es ist also klar, daß die Musik wohl von der Konsonanz ausgehen kann und (normalerweise) zu ihr zurückkehren muß, aber nicht von ihr leben kann. Im Palestrinastil sind es, bei völlig konsonanten Harmonien (d. h. reinen Dreiklangsfolgen) melodische Spannungen, nicht nur angebundene Vorhalte, Durchgangs- und Wechselnoten, sondern überhaupt die durch das Verlassen des Grundtons entstehenden Spannungsmomente der Melodie , wodurch trotz der starken harmonischen Gebundenheit Leben entsteht. Aber noch im sechzehnten Jahrhundert, noch zu Lebzeiten PALESTRINAS, flutet ein neues mächtiges Lebensgefühl aus der Kultur der Renaissance in die Musik hinüber: Die Harmonie wird aus ihrem Bann befreit, und einige Jahrzehnte lang sehen wir bei italienischen Madrigalisten wie GESUALDO und VICENTINO harmonische Experimente von einer solchen Kühnheit, daß sie einem konservativ gerichteten Musiker von damals ähnlich vorgekommen sein mögen, wie heutzutage einem Brahmsianer die Klavierstücke SCHÖNBERGS. Das Bezeichnende ist nun aber, daß diese kühnen Neuerer nicht zu den wirklich genialen Musikern ihrer Zeit gezählt haben und daß ihre Extravaganzen von der folgenden Zeit, also etwa von CACCINI und MONTEVERDI nicht bestätigt wurden. Vergleicht man nun MONTEVERDIS Tonsprache in seinen Bühnenwerken (etwa im Orfeo) mit der neapolitanischen Oper um 1700 (ALESSANDRO SCARLATTI), so ergibt sich auch da nicht ein Fortschreiten, sondern eher eine weitere Abschwächung des Dissonanzbegriffs. Die Bewegung nach Erweiterung der Dissonanz ist also nicht stetig, sondern stoßweise, und dann aber wieder rückläufig erfolgt, wie eine durch den Damm brechende Flut nach allen Seiten überschäumt, ja selbst kurze Zeit zurückfließt, ehe sie im neuen Bett ruhig weiterströmt.

Der musikalischen Revolution um 16OO folgt erst nach 150 Jahren eine zweite, ähnliche, in der Stilwende zwischen BACH und MOZART. Auch da gab es, nach Verlassen der kontrapunktischen Formen, Pfadfinder ins Reich der Sonate, die an Kühnheit weit über das hinausgingen, was dann von MOZART und BEETHOVEN in sicheren Besitz genommen wurde, und deren Namen heute nur noch für den Forscher einen lebendigen Klang haben: in erster Linie PHILIPP EMANUEL BACH, dessen harmonische und thematische Kühnheiten uns heute noch in Erstaunen, den Kenner in Entzücken versetzen können. Auch hier ging die Abklärung und rückläufige Bewegung über die erste Meisterzeit hinaus: BEETHOVENS Harmonik ist einfacher als die subtile Chromatik MOZARTS. Was dann das neunzehnte Jahrhundert zum Ausbau der durch die Revolution von 1750 geschaffenen Tonsprache beitrug, erscheint uns aus der Nähe des teilweise noch Miterlebten bedeutungsvoll und vielseitig, aus größerer Entfernung gesehen nimmt es sich aber recht bescheiden aus. Man versteht die dritte, abermals nach einer Zeitspanne von ungefähr 150 Jahren eintretende Revolution, die man etwa von 1900 ab, mit dem Zersetzen der alten tonalen Zusammenhänge im Impressionismus DBBUSSYS datieren kann, nur dann recht, wenn man die vorhergehende Zeit als eine Zeit der Stauung infolge einer technischen Übersteigerung ansieht, genau so, wie die Polyphonie des Palestrinastils und die Orgelfugen BACHS nicht mehr zu überbieten gewesen waren. Es war kein Spaß mehr zu komponieren, wie BRAHMS in bezug auf das Symphonienschreiben nach BEETHOVEN sarkastisch bemerkte und dem jungen HUGO WOLF knurrig den Rat gab, auf die Komponistenlaufbahn zu verzichten, da "alles besetzt" sei. Wieder einmal mußte sich die Musik von der niederdrückenden Last klassischer Traditionen und Verpflichtungen freizumachen suchen: Die Oper wandte sich von dem großen Gefühlspathos RICHARD WAGNERS ab, die Instrumentalmusik warf nicht nur die längst als Fessel empfundene Bindung an die klassische Sonatenform, sondern auch die Bindung an die tonale Harmonik der Klassiker ab, die in der Romantik lediglich ausgebaut und chromatisch verfeinert worden war. Es liegt auf der Hand, daß zu einem derartigen Umschwung nicht technische Spekulation, sondern innerer Zwang führen muß; wie das neue Lebensgefühl der Hochrenaissance, und im 18. Jahrhundert die Sturm- und Drangperiode die Musik mitgerissen hatten, so war es jetzt die ungeheure Erregung der Kriegs- und Revolutionsjahre, die in ganz Europa fast über Nacht eine neue Dichtung, eine neue Malerei, eine neue Musik entstehen ließen. Heute, nur zehn Jahre nach dem Ende des Kriegs, müssen wir darüber staunen, wie rasch die gewaltige Erregung jener Zeiten verebbt ist, und daß fast auf der ganzen Linie der neuen Kunst ein Rückzug angetreten worden ist, am ehesten in der Literatur, dann in der Malerei, weniger in der Architektur - und als einzige Kunst noch die Musik ihre damals eingenommenen vorgeschobenen Stellungen verteidigt, die ein kleiner Stoßtrupp gegen die wütenden Angriffe der Mehrzahl der Fachgenossen und die völlige Interesselosigkeit des Publikums hält. Der Spielraum, den die Musik durch die Aufgabe ihrer alten tonalen Bindungen gewonnen hat, ist, für den Augenblick wenigstens, ungeheuer groß: man versteht die rasche Produktion der jüngsten Komponistengeneration, die nicht als Epigonen sich damit bescheiden müssen, ein bestehendes System in Kleinigkeiten weiter auszubauen, sondern die sich in einem fast unbebauten Neuland nach Herzenslust tummeln dürfen. Das heißt aber, nach allen geschichtlichen Analogien, daß wir uns noch im Stadium des Experimentierens befinden, und uns von reiner Atonalität (d. h. einer, nur theoretisch denkbaren, völligen Anarchie und Beziehungslosigkeit aller Töne) zu einer neuen Ordnung durchfinden müssen, ohne die keinem Kunstwerk, in welcher Epoche es auch sei, die Allgemeingültigkeit zugeschrieben werden kann, die es erst zum Kunstwerk macht. Daß damit eine Einschränkung des heutigen, noch zu unbestimmbaren Dissonanzbegriffs eintreten wird, und damit der heutige Zustand aufhören wird, daß über neun Zehntel der musikalisch gebildeten Hörer die moderne Musik nicht "verstehen", darf man demnach als wahrscheinlich bezeichnen; es scheint, daß wir heute schon in der rückläufigen Bewegung uns befinden, die dem sicheren Vorwärtsschreiten vorauszugehen pflegt.

Und nun die andere Frage: Ist überhaupt eine schrankenlose Erweiterung des Dissonanzbegriffs möglich, also etwa eine Musik am Ende des 20. Jahrhunderts, die sich zu SCHÖNBERG verhalten würde, wie SCHÖNBERG ZU MENDELSSOHN? Niemand könnte sich das heute auch nur verstandesmäßig, geschweige denn gefühlsmäßig vorstellen. Bedenken wir nun, einen wie verschwindend geringen Prozentsatz aller heute erklingenden Musik diese radikale Wiener Schule ausmacht, nämlich noch nicht den millionsten Teil, so wird die Perspektive auf einen Sieg der ultramodernen Musik äußerst unwahrscheinlich. Aber SCHÖNBERG selbst lenkt ein: "Die atonale Musik von heute ist die tonale Musik von morgen"; die Spannungen und Bindungen der heutigen Musik, heute nur einem kleineren Kreis von Künstlern bewußt, werden in kurzer Zeit von der Allgemeinheit verstanden werden, denn völlig voraussetzungslos kann keine Kunst existieren.

Zu dem gleichen Ergebnis gelangt die spekulative Musiktheorie: Unsere Musik kommt mit nur zwölf voneinander verschiedenen Tönen aus, deren Verkehr seither einer strengen diplomatischen Regelung unterworfen war. Völlige gegenseitige Freiheit (wie sie etwa HABAS Harmonielehre vertritt), würde zugleich die Aufhebung der Dissonanz, also der Hauptlebenskraft der Musik bedeuten. Da die Musik eine Sprache ist, würde dem etwa ein Versuch von "Dichtern" gleichzustellen sein, aus den 25 Buchstaben des Alphabets statt der paar tausend üblichen Zusammenstellungen, die man Worte heißt, Millionen neuer, noch nicht abgegriffener Bildungen zu setzen, ein Wahnsinn, der in der Literatur, abgesehen von schwachen Versuchen der Dadaisten, noch nicht, in der Musik aber immerhin schon versucht worden ist.

Während so der Kampf um neue Ausdrucksmittel der Musik von einem kleinen Kreis von Musikern ausgefochten wird, zu dem die Mehrzahl der Fachgenossen mit Recht eine abwartende Haltung einnimmt, spielt sich, fast unbemerkt von bürgerlichen Musikfesten und Musikzeitungen, eine mindestens ebenso bedeutungsvolle Umschichtung der Musik ab wie die ihrer klanglichen Ausdrucksmittel, nämlich die beginnende Teilnahme des vierten Standes an der Musikpflege. Jede der seitherigen musikalischen Revolutionen hatte auch ihre soziologische Seite: Das Jahr 1600 ist die Geburtsstunde der für die Fürstenhöfe bestimmten Oper, erst nach 1750 eroberte sich das Bürgertum seinen Platz in der Musik ohne Bevormundung durch Kirche und Adel, und heute ist ein unendlich wichtigeres Ereignis als ein neues Werk von KRENEK oder HINDEMITH das 1927 erschienene Liederbuch für gemischten Chor des Deutschen Arbeitersängerbundes, das (im Buchhandel gar nicht zu haben) neben "klassen-bewußten" Gesängen die heute vielleicht beste Auswahl der klassischen gemischten Chorliteratur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart bringt. Hätten die Arbeiterchöre das Niveau dieses Chorbuches wirklich erreicht, wovon sie noch weit entfernt sind, so wären die bürgerlichen Chöre erledigt; daß ihre Führer es erreichen wollen, steht außer Zweifel. Noch fehlen diesen Massen große Chorwerke, die ihre Ideen aussprechen würden, sie sind heute noch gezwungen, HÄNDEL und HAYDN zu singen; im Kino hören sie noch schlechten Abklatsch bürgerlicher Musik, aber schon arbeitet man von Amerika her an einer völligen Umwälzung der Filmmusik, die wir vielleicht in wenigen Jahren schon in einer heute ungeahnten Vollkommenheit (mechanisch, und gleichzeitig mit dem Bildstreifen ablaufend) bekommen werden. Gegenüber diesen Perspektiven erscheinen die Debatten über atonale Musik als rein artistisch und im Grunde belanglos. Die Entwicklung der Musik geht heute in die Breite, nicht in die Tiefe; das Niveau der Unterhaltungsmusik ist in ungeahnter Weise gestiegen, die hohe Musik dagegen blutleer geworden, sie brauchte die Berührung mit der Erde, d. h. mit dem Volk, das sehnsüchtig darauf wartet, um wieder neue Lebenskraft zu erlangen. Ich habe keine Idee, wie alle diese Kräfte, die sich heute noch kaum berühren, einmal zusammenschießen werden, ob in freundlicher oder feindlicher Weise, aber ich weiß, daß sich in der Musik der nächsten Jahre und Jahrzehnte unsere allgemeine geistige Lage widerspiegeln wird, daß man aus ihrem Schicksal auch das unsere wird ablesen können.





Quelle:
Festschrift der Technischen Hochschule Stuttgart zur Vollendung ihres ersten Jahrhundert 1829 1929
Berlin, Julius Springer, 1929