1936 · Die Orgelwerke Max Regers

und ihre Bedeutung für die Gegenwart

Zur 20. Wiederkehr seines Todestages, 11. Mai 1916
Wie rasch unsere Zeit ihr geistiges Antlitz verändert, wie unbarmherzig die Weltmaßstäbe einer nahen Vergangenheit auch in der Kunst überprüft, oft verworfen und durch andere ersetzt werden, zeigt am deutlichsten der Abstand, der uns heute schon von den Künstlern trennt, die zu Beginn des Kriegs eine führende Rolle im deutschen Musikleben gespielt haben. Mitten im Weltkrieg ist Max Reger im Alter von erst 43 Jahren von uns genommen worden. Wenn heute in diesen Blättern seiner gedacht werden soll, so kann es nur in dem Sinne sein, daß wir fragen: hat seine Kunst den gewaltigen Umbruch der letzten 20 Jahre überdauert? Halten seine Orgelwerke gegenüber der ganz anderen Auffassung der deutschen Orgelkunst, wie sie uns die Orgelbewegung gebracht hat, noch stand? Und, wenn diese Frage bejaht wird, ist die Wiedergabe seiner Werke an die vom Komponisten geforderte Interpretation gebunden, oder vertragen seine Werke auch, ohne Schaden zu leiden, eine einfachere, flächigere Wiedergabe?

Wir sehen Mar Regers einst viel umstrittene Gestalt heute schon in ziemlich klaren Umrissen. Die Hoffnung mancher Regerfreunde, daß aus seiner Musik etwas wie eine neue Klassik entstehen könnte, hat sich nicht erfüllt. Einem außerordentlichen Reichtum an subtilem, differenziertem Ausdruck stand bei Reger keine ebenbürtige Formkraft zur Seite. Dieser Mangel beeinträchtigt oft in empfindlicher Weise seine freien Schöpfungen; er macht sich weniger bemerkbar bei allen Werken, in denen ein von außen gegebenes Thema seiner unerschöpflichen Fantasie einen festen Halt gibt, also in allen großen Variationswerken, in der Form der Passacaglia, in den großen Choralfantasien für Orgel, in denen alle Strophen eines Chorals durchkomponiert werden und der Bauplan im großen von vornherein feststeht. Seiner geistigen Haltung nach sehen wir heute Reger nicht als Bindeglied zwischen dem 19. Jahrhundert und der eigentlich modernen Musik, sondern als Spät-romantiker ganz eigener Prägung, nicht als Neutöner. Straube spricht einmal von "der schwermütigen Gestalt Max Regers, dem späten Erben einer großen Vergangenheit".
Wie bei allen Spätgeborenen überwiegt bei ihm der Ausdruck über die Form. Die Formelemente aber, aus denen Reger seinen nur ihm zugehörigen, höchst persönlichen Stil aufgebaut hat, sind ganz verschiedener Art und liegen weit auseinander. Wir können hauptsächlich drei solcher Elemente unterscheiden: einmal eine Anknüpfung an die deutsche Romantik, besonders an Brahms, die zunächst einen durchaus epigonenhaften Eindruck macht; dazu tritt aber bald eine außerordentlich kühne und differenzierte Harmonik, in der die theoretischen Ideen Hugo Riemanns bis an die letztmöglichen Grenzen der Praxis geführt werden (Regers Harmonik, mag sie manchmal noch so chaotisch wirken, ist grundsätzlich streng tonal); dieses zweite Element gibt Regers Musik etwa von op. 30 ab schon eine ganz persönliche Note, ist aber, formal gesehen, kein Aufbau-Element; ein solches erkennen wir in der dritten und wichtigsten Wurzel von Regers Stil: in der Anknüpfung an die Formen der polyphonen Musik der Barockzeit: Fuge, Passacaglia, c. f. Figuration usw. Für diesen so eigenartig zusammengesetzten Stil gab es ein Instrument, das alle Möglichkeiten zu seiner Verwirklichung bot: die moderne Orgel um die Jahrhundertwende mit ihrem Reichtum an differenzierten orchestralen Farben, ihrer scheinbaren Aufhebung der Starrheit des Orgeltons, ihrem schrankenlosen crescendo und diminuendo, ihrer Gegensätzlichkeit eines imposanten Tutti und eines äußersten Pia-nissimos. So hat Reger damals für die Orgel eine ungleich größere Bedeutung gehabt als für das Klavier oder die Kammermusik; der ganze Aufschwung, der mit einem Male von 1900 ab die deutsche Orgelkunst erfaßt, geht überwiegend von Max Reger und seinem getreuen Eckart Karl Straube aus; schon diese eine Tatsache würde genügen, um Reger für immer einen Ehrenplatz in der Geschichte deutscher Orgelkunst zu sichern. Reger war ein Vielschreiber; "mit soviel Gepäck kommt man nicht auf die Nachwelt" , aber unter der kleineren Anzahl von Werken, die Regers Namen auch weiterhin lebendig erhalten, stehen obenan einige große Orgelwerke: die Fantasien über "Wie schön leuchtet der Morgenstern" und "Wachet auf ruft uns die Stimme", die Fantasie und Fuge über B-A-C-H und einige andere; auch die fis moll-Variationen wären trotz einiger Widerborstigkeiten hier zu nennen, wenn nicht die unbedeutende Schlußfuge dem Ganzen Abbruch täte. Dagegen tragen die fast hundert kleineren Orgelstücke Regers vielfach zu sehr den Charakter eines nachromantischen Epigonentums, um heute noch zu interessieren. Die Organistenwelt pflegt sich mit op. 59 zu begnügen (doch sei daneben auch op. 129 als ebensogut empfohlen). Die erstgenannten großen Orgelwerke dagegen stehen heute noch in ihrer Geltung unerschüttert und in ihrer Vereinigung von wahrhaft orgelmäßiger Technik und geistigem Gehalt bis heute unerreicht da. Nicht dasselbe kann man von den fast 100 kleineren Choralvorspielen Regers (op. 67, 79 und 135a) sagen. Hier hat uns die Orgelbewegung doch erst wieder gezeigt, wo die Fundamente einer wirklichen Orgelchoralkunst zu suchen sind: in der Kirche, in den Anforderungen des sonntäglichen Gottesdienstes, nicht in der Studierstube des für sich und eine anonyme Öffentlichkeit schaffenden Tonkünstlers. So sehen wir die meisten Choralvorspiele Regers als (nicht immer gleichmäßig inspirierte) Studienarbeiten an, von denen wir nur einen kleinen Teil in der gottesdienstlichen Praxis verwenden.

Die Frage, wie weit der durch die Orgelbewegung geschaffene neue Orgelstil sich mit Regers Kompositionsstil und seinen bis ins Kleinste gehenden, nicht selten überzeichneten Vortragsanweisungen vereinigen laßt, ist letzten Endes eine Frage nach dem überzeitlichen Wert dieser Werke überhaupt. Man darf sagen, daß eine Musik, die ohne die Mittel einer beständig wechselnden Schattierung nicht auskommt, nicht im strengeren Sinne als orgelgemäß zu bezeichnen ist. Man mache aber einmal den Versuch, Regers Musik allein aus dem Notentext, unter Außerachtlassung aller dynamischer und Tempo-Bezeichnungen abzulesen, so wird man finden, daß z. B. in den Choralfantasien ganze Strecken ohne Wechsel der Registrierung und des Tempos gespielt werden können, daß in B-A-C-H an Stelle einer unaufhörlichen mit accelerando und ritardando verbundenen Übergangsdynamik ein einheitliches Tempo und eine wohlabgewogene ziemlich einfache Terrassierung treten kann, so daß diese Werke in der neuen Interpretation eher besser als vorher klingen. Nur erträgt Regers Polyphonie im Forte keinen zu scharfen Mixturklang, wie er heute auf umgebauten Orgeln oft anzutreffen ist, und ebenso in der Führung eines c. f. keine obertönige Registrierung, wie man sie für Pachelbel oder Bach anwenden würde.

Die ganze Sorge und das ganze Interesse der deutschen Organisten hat in den letzten zehn Jahren sich auf die Wiedergewinnung der Registrierkunst für die Werke der Barockzeit konzentriert; man wird nun allmählich daran gehen müssen, die Frage aufzuwerfen, auf welche Weise etwa Cäsar Frank, und auf welch andere Weise Max Reger auf Orgeln gespielt werden müssen, die seit der Orgelbewegung gebaut oder umgebaut worden sind. Natürlich kann diese Frage erst gestellt werden, wenn der Wert der Musik, der diese Wiedergabe dienen soll, allgemein anerkannt ist. Man darf es aber heute aussprechen, und es ist vielleicht nicht unnötig, es auszusprechen, daß im Lebenswerk Max Regers, das er den deutschen Organisten hinterlassen hat, Werte enthalten sind, die auch heute noch lebendig sind, und die der Allgemeinheit fruchtbar zu machen nicht die geringste Aufgabe der deutschen Organisten ist.

Quelle:
Musik und Kirche, 1936, S. 153 - 156