1938 · Die Hammond-Orgel

Musik und Kirche

Seit einigen Jahren sind, besonders im Ausland, Versuche gemacht worden, Orgeln oder besser gesagt orgelähnliche Instrumente zu konstruieren, bei denen die Tonerzeugung nicht mittels Pfeifen, sondern auf elektroakustischem Wege geschieht, und der so erzeugte Klang durch einen Lautsprecher vermittelt wird. Da diese Instrumente im Ausland viel diskutiert wurden, auch schon als Orgel-Ersatz praktische Verwendung gefunden haben, aber nur wenige deutsche Organisten sie wirklich gehört haben, glaube ich, meinen Fachgenossen einen Dienst zu erweisen, wenn ich kurz darüber berichte.
Ich hatte schon im letzten Jahr in Lausanne eine "elektronische" Orgel der Firma Fölisch kennen gelernt (ein Instrument mit zwei Manualen und Pedal, mit etwa 20 Registern, bei denen, laienhaft gesprochen, kleine Glühbirnchen die Stelle der Pfeifen vertraten, d. h. Lichtwellen über Photozellen in Schallwellen umgewandelt werden); vor einigen Wochen nun hatte ich Gelegenheit, in Berlin die einzige in Deutschland befindliche, rein elektrische, amerikanische Hammond-Orgel zu probieren. Der Name "Orgel" ist dafür nur eine Verlegenheits-Benennung; jedes Neue sucht zunächst Anlehnung an das Bestehende, auch ist in der Tat eine gewisse Verwandtschaft mit dem Klang der Orgel da, der etwa zwischen Orgel im Rundfunk und wirklichem Orgelklang steht. Das Instrument hat zwei Manuale und Pedal, keine Register (wie die seitherigen Lichtton-Orgeln), sondern der Spieler mischt Grundton und Obertöne völlig frei; für jedes Manual sind 8 Züge da, denen folgende Fußlagen entsprechen: 16', 8', 4', 2 2/3", 2", 1 3/5", 1 1/3", 1". Jede dieser acht Höhenlagen kann unabhängig von den andern in acht verschiedenen Stärkegraden eingestellt werden. Es leuchtet ein, daß auf diese Weise eine theoretisch fast unbegrenzte Zahl von Klangfarben hergestellt werden kann. Die so aufgebauten Klänge sind durch einen Schwelltritt auf zwölf Stärkegrade einstellbar; der Lautstärke ist nach oben keine Grenze gesetzt; aber je lauter, desto unmusikalischer wird der Klang. Zwei freie und 18 feste Kombinationen, die der Spieler nach Belieben vor Beginn des Spiels einstellen kann, ermöglichen Wechsel der "Registrierung". Keine Koppeln. Das Pedal ist bis jetzt nur mit einem l6' und einer Kornett-Mixtur ausgestattet. Die Tonerzeugung ist rein elektrisch: jeder Taste entspricht ein Zahnrädchen, mit wenig Kerben für die tiefen, vielen (bis zu 128) für die hohen Töne; die Umdrehung dieser Rädchen, an einem Elektro-Magneten vorbeigeführt, bewirkt in diesem eine sehr rasch wechselnde Stärke des elektromagnetischen Stroms; der Lautsprecher gibt diese "Schwingungen" als Schallwellen wieder. Der ganze Spieltisch ist nicht größer als ein Tafelklavier.

Es war wohl der denkbar größte Kontrast, nach der Schnitger-Orgel der Eosander-Kapelle in Charlottenburg, die ich tags zuvor gespielt hatte, dieses seelenlose, mechanische Instrument kennen zu lernen. Trotzdem: ich konnte den kühnen Versuch der Elektrotechnik, zur Musik vorzudringen, nicht a priori entrüstet ablehnen, wie wohl zahlreiche Leser dieser Zeitschrift erwarten und fordern werden. Man kann sich fragen, ob das Instrument den Namen "Orgel" tragen soll, (es ist einerseits weniger, andrerseits mehr), aber es ist jedenfalls keine Prostitution des Begriffes "Orgel", wie es die Wurlitzer Kino-Orgel ist, oder die "Orgel", die bei uns in den großen Restaurants abwechselnd mit der Salon-Kapelle satten Spießern ihre "Piècen" zum besten gibt. Dagegen, meine Herren Kollegen, möge endlich einmal ein Entrüstungssturm sich erheben, denn was da an Ehrfurcht vor der Orgel täglich zerstört wird, das ist unsagbar. Wenn dagegen ernsthafte Physiker und Ingenieure in ein seither unentdecktes Neuland vorstoßen, dann wollen wir Musiker ihre Versuche mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgen, und ihnen mehr helfen, als es seither der Fall gewesen ist (vielleicht mit Ausnahme der Schweiz, wo sich angesehene Organisten ernsthaft mit diesen Dingen abgeben).
Die Hammond-Or-gel ist in ihrem heutigen Stadium noch nichts auch nur halbwegs Vollkommenes; aber wer zweifelt, daß die Technik unablässig versuchen wird, den Abstand zwischen toter Technik und lebendiger Musik immer mehr zu verkleinern? Bekanntlich kann die Chemie heute einen Veilchenduft künstlich herstellen, der vom natürlichen nicht mehr zu unterscheiden ist. Aber nimmt uns das etwa die Freude am Veilchen, das am Wege blüht?

Was ist nun der Eindruck, den die Hammond-Orgel in ihrer jetzigen Gestalt auf den Musiker macht? Die einfachen (nicht kombinierten) Töne sind fast obertonfrei, daher völlig reizlos; sie verhalten sich zu einem lebendigen Ton etwa wie destilliertes Wasser zu Quellwasser. Nimmt man aber nur die landläufigsten Obertonkombinationen, so ist man über die Möglichkeiten der Klangfarbenmischungen verblüfft; wenn etwa eine Sesquialtera durch Miichung eines 8' mit 2 2/3' und 1 3/5' auf die mannigfaltigste Weise abgetönt werden kann, (also etwa Grundton Stärke 5, Quinte Stärke 3, Terz Stärke 2, usw.), wenn dem 8' Klang ein ganz zarter 16' beigegeben wird, usw.
Was ganz fehlt, ist der spezifische Zungenklang, ferner die eigentümliche, wichtige, beim lebendigen Instrument im Augenblick des Anblasens entstehende Klangfärbung, Dinge, die man praktisch kennt, die aber theoretisch noch zu wenig erforscht sind, als daß die Technik sie bis jetzt in ihre Berechnungen einbeziehen könnte. Der Ton ist beim Tastenfall mit elektrischer Plötzlichkeit da, das ist vielleicht der empfindlichste ästhetische Mangel des Instruments.
Und die bei der Orgel so wichtigen Einflüsse der Mensur, des Materials? Fragen dieser Art kommen bei der synthetischen Tonerzeugung natürlich nicht in Betracht. Wenn es gelänge, bei einer Pfeifenorgel den Zusammenklang einer Reihe von Registern als Gesamtklang akustisch genau zu analysieren, ließen sich Vergleiche durchführen und Vorbilder aufstellen; aber davon sind wir noch weit entfernt. Wer von uns hört z. B. (etwa hinter einem Vorhang), ob ein Flötist eine hölzerne oder silberne Flöte bläst? Niemand; und so lange diese primitivsten Fragen noch ungeklärt sind, dauert es noch lange, bis die unendlich komplizierteren, die der Zusammenklang einer Orgel bietet, wissenschaftlich untersucht werden können.
Also, nach meiner Laien-Meinung, werden die beiden bis jetzt noch feindlichen Brüder, die Orgel und das elektro-akustische Instrument, noch lange getrennt marschieren müssen, bis das letztere seine Kinderschuhe ausgetreten hat. Seine Vorzüge sind heute schon: daß es zuverlässig ist, sich kaum verstimmt, wenig Platz einnimmt, für den kleinsten, wie den größten Raum sich eignet, billig ist. Trotz dieser Vorzüge müssen wir es bekämpfen, wenn wir fürchten müssen, als Organisten Schaden an unserer Seele zu nehmen. Ich habe diese Furcht nicht, im Gegenteil, ich möchte die deutsche Organisten-Welt bitten, diesen hochbedeutenden Versuchen mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken; besonders aber der Technik nicht die ganze Weiterentwicklung allein zu überlassen, sondern ihr ein musikalisches Ziel zu zeigen.
Zwei Ziele lassen sich denken: entweder eine möglichst weitgehende Annäherung an die Orgel, dann könnte das neue Instrument in gewissen Fällen als Orgel-Ersatz dienen; das ist wahrscheinlich, kaufmännisch gesehen, das gegenwärtige Ziel der Fabrikation. Oder: etwas Neues zu schaffen, und die dem neuen Instrument innewohnenden Möglichkeiten ganz frei zu entwickeln, das wäre die schwerere, geldlich weniger lohnende, aber bedeutungsvollere Aufgabe.

Quelle:
Musik und Kirche, 1938, S. 227 - 229