1940 · Was kann zur Hebung

der Kirchenmusik geschehen?

Vorbemerkung der Schriftleitung: Der Verfasser ist Leiter des Instituts für Kirchenmusik an der staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart. wir haben ihn gebeten, darzulegen, welchen Maßnahmen die evangelische Kirchenmusik unseres Landes ihren bedeutsamen Aufschwung in den letzten Jahren zu verdanken hat, und von diesen Erfahrungen her zu den gegenwärtigen Fragen der Kirchenmusik überhaupt Stellung zu nehmen. Denn noch immer kann man daraus, wie es die andern machen, für sich selbst am meisten lernen.

In der katholischen wie in der evangelischen Kirche ist die Kirchenmusik ein wichtiger Bestandteil des Gottesdienstes. Das ist eigentlich selbstverständlich; und doch ist, zum mindesten in der evangelischen Kirche, der Kirchenmusik lange Zeit hindurch wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Erst in den letzten fünfzehn Jahren, unter dem Einfluß der Jugend-Singebewegung, der Orgelbewegung und der liturgischen Bestrebungen, ist ihr wieder der Platz zugestanden worden, den sie von Luther bis Bach innegehabt hatte. Dazu waren aber vielerlei Bemühungen notwendig: Es galt, wieder einen Stamm tüchtiger, hauptamtlicher Kirchenmusiker heranzubilden; es galt, für diese Kirchenmusiker Stellungen zu schaffen, ja mehr als nur bezahlte "Stellungen": Ämter, die ihnen einen Wirkungskreis gewährleisteten und gleichzeitig eine Verantwortung auferlegten. Um so weit zu kommen, mußten viele Hindernisse weggeräumt werden: Die Leitung der Kirche mußte diese Entwicklung unterstützen; die Pfarrämter und die Gemeinden mußten auf die Wichtigkeit der Aufgabe hingewiesen werden, um so den Boden für eine neue Blüte der Kirchenmusik zu bereiten. Viel ist auf allen diesen Gebieten geschehen, mehr, als die kühnsten Optimisten vor zwanzig Jahren zu hoffen wagten; viel muß noch geschehen. Ich will von diesen Dingen berichten, zunächst davon, was auf der protestantischen Seite geschehen ist.

Zuerst galt es, überhaupt wieder einen Stand von hauptberuflichen Kirchenmusikern zu schaffen, nachdem etwa hundertfünfzig Jahre lang dieses Amt nebenberuflich durch den Lehrerstand, und zwar, wie wir gleich bemerken wollen, in vielen Fällen ausgezeichnet, mit reichem Können und großem Idealismus versehen worden war. In Stuttgart wurde zu diesem Zweck ein kirchenmusikalisches Institut an der Musikhochschule (in den ersten Jahren noch zusammen mit der Abteilung für Schulmusik) ins Leben gerufen, an dem bald nicht gerade viele, aber doch schon mehr junge Musiker studierten, als Württemberg unterbringen konnte: wir mußten deswegen einige unserer besten Leute außer Landes, d. h. nach Norddeutschland abgeben, wo sie guten Stellungen fanden. Um dem zu steuern, setzte daher bald darauf eine Bestrebung ein, für diese jungen Musiker auch im Lande selbst Stellungen zu schaffen. Wie in der katholischen, so ist es aber auch in der evangelischen Kirche Sache der einzelnen Gemeinden, ihren Organisten und Chordirigenten selbst zu bestellen und zu besolden. Es konnte also vorkommen und kam vor, daß eine Gemeinde rundweg erklärte, sie wolle keine größeren Aufwendungen für Kirchenmusik machen als seither, ihr genüge ein nebenamtlicher Organist vollauf, "wenn er nur einen Choral spielen könne". Andere Gemeinden wiederum erklärten, daß sie gerne eine junge, tüchtige, hauptamtliche Kraft anstellen würden, aber sie seien finanziell schlechterdings nicht dazu in der Lage. So schritt man zu einer Lösung, die sich in der Praxis gut bewährt hat: Man erklärte eine Anzahl von Kirchenmusikstellen in Württemberg, vor allem in den größeren Städten des Landes und in den Dekanatsorten, grundsätzlich als mit hauptamtlichen Musikern zu besetzen, und der Oberkirchenrat behielt sich ein Mitbestimmungsrecht über diese Stellungen vor, ohne das Bestimmungsrecht der Gemeinden grundsätzlich anzutasten. Für den Fall aber, daß bei einer Neubesetzung ein hauptamtlich ausgebildeter Kirchenmusiker (Absolvent der Stuttgarter Hochschule oder einer anderen) angestellt werden würde, sagte der Oberkirchenrat einen Zuschuß zur Besoldung dieser Stelle zu, der je nach der Bedeutung der Stelle, der Größe der Gemeinde und dem Umfang der Amtspflichten verschieden war, aber doch dem Inhaber ein Monatseinkommen von mindestens 100, meist aber 150 bis 200 Mark, in einigen Fällen noch etwas mehr, sicherte. Was der Kirchenmusiker darüber hinaus zum Leben brauchte, konnte er zusätzlich durch Unterricht, Chorleitung oder auf andere Weise leicht verdienen. Dem in Norddeutschland vielfach geübten Brauch, zu gering bezahlten Kirchenmusikstellen durch Verbindung des Amtes mit einer Bürotätigkeit in der Rendantur die notwendige Ergänzung zu einem ausreichenden Einkommen sicherzustellen, haben wir uns nicht angeschlossen, weil wir der Ansicht sind, das Musiker sein Leben der Musik widmen soll, und daß, richtig betrachtet, das Kirchenmusikamt so weit und umfassend ist, daß es den ganzen Mann beansprucht. Wir haben diese Auffassung, daß Kirchenmusik ein Amt, nicht bloß ein Erwerbszweig sei, auch der Berufsorganisation entgegengehalten, als diese mit dem Ansinnen an die Kirche herantrat, arbeitslose Ensemblemusiker in den Kirchenmusikdienst herüberzunehmen; - nicht, als ob dieses Ansinnen abgelehnt worden wäre, aber es wurde doch jeder Fall auf die innere Eignung des Anwärters hin geprüft.

Dies alles durchzuführen, wäre aber nicht möglich gewesen ohne eine Stelle, in der alle Fäden zusammenliefen, die wissen mußte, welche Kräfte verfügbar waren, wer sich auf welche Stelle eignete, wo Stellen für irgendeinen besonders begabten Musiker geschaffen werden konnten usw. Ein junger, praktischer, von hohem Idealismus für sein Amt getragener Pfarrer, der selbst auf der Stuttgarter Hochschule Kirchenmusik studiert hatte, Wilhelm Gohl, wurde dazu ausersehen, das neue Amt des "Landeskirchenmusikwarts" zu bekleiden. Natürlich waren seine Aufgaben vielseitiger und umfassender, als nur für den kirchenmusikalischen Nachwuchs und seine Unterbringung zu sorgen; aber das gehörte doch auch mit zu seinen wesentlichen Aufgaben. Er konnte als Dozent für Liturgik und Hymnologie an der Musikhochschule die zukünftigen Kirchenmusiker des Landes während ihres Studiums genau kennenlernen und den richtigen Mann an den richtigen Platz bringen. Natürlich ging und geht das nicht so einfach, wie es hier geschildert wird: Oft war kein Platz frei, mit bestem Willen nicht, denn es wurden nie Stellungen gewaltsam freigemacht; man wartete, bis eine Stelle auf natürliche Weise frei wurde; in manchen Fällen besonders hartnäckiger, aber ungeeigneter Inhaber konnte mit sanfter Überredung nachgeholfen werden. Oft aber auch war eine Stelle frei und kein dafür geeigneter Bewerber vorhanden. Im Ganzen darf man jedoch sagen, daß sich die Einrichtung des Landeskichenmusikwarts vortrefflich bewährt. Er übernahm ja nicht nur die Aufgabe, dem Oberkirchenrat die richtigen Leute vorzuschlagen, sondern den Gemeinden gegenüber auch die Verantwortung dafür, daß die Inhaber dieser Stellungen nicht nur musikalisch gut vorgebildet, sondern auch voll einsatzbereit für ihr Amt waren! Es kann gar nicht hoch genug angeschlagen werden, welche Wirkung von einem einzigen, guten, jungen Musiker ausgehen kann, der etwa in einer mittleren Stadt des Landes nicht nur gut Orgel spielt, sondern auch versteht, einen Chor richtig zu begeistern, ein Mann, um den sich dann auch bald weltliche Chöre, besonders Männerchöre, reißen. (Das Wort "Es gibt keine schlechten Chöre, nur schlechte Dirigenten" gilt sicherlich auch umgekehrt, cum grano salis natürlich!) Ein Musiker, der überdies einen guten, verantwortungsbewußten Unterricht gibt usw., wird auch bald weder an ungenügendem Einkommen, noch an Mangel an Beschäftigung leiden! Da heute der Lehrerstand für die Kirchenmusik fast ganz ausfällt, ist ein hauptberuflicher Kirchenmusikerstand eine Lebensnotwendigkeit für die Kirche; zumal auch ein solcher Musiker am ehesten Hilfsorganisten heranbilden kann. Bekanntlich ist des Lernens kein Ende, und am wenigsten ist ein junger Kirchenmusiker am Ende seiner Ausbildungszeit zugleich am Ende seiner Ausbildung angelangt; dafür, daß er gezwungen sein soll, an sich weiterzuarbeiten, sorgen Fortbildungskurse, die bisher etwa alle zwei Jahre stattfanden, ferner die kirchlichen Singwochen und die Kurse für Chorleiter, die alljährlich zu Beginn der Sommerferien abgehalten wurden. Auf diesem Boden eines jungen, hauptberuflichen Kirchenmusikerstandes ist bereits eine neue Kirchenmusik entstanden, die überall Ansätze zu neuem Leben zeigt. Das "Fest der deutschen Kirchenmusik 1938" in Berlin brachte nur neue Werke!

Nach diesem Bericht, wie es auf protestantischer Seite mit der Pflege der Kirchenmusik bestellt ist, möchte ich, so gut ich es eben kann, darstellen, wie die Lage auf katholischer Seite aussieht. Württemberg ist zu fast zwei Dritteln protestantisch; daher war die Zahl der katholischen Studierenden der Kirchenmusik natürlich erheblich kleiner als auf protestantischer Seite; sie betrug meist sogar weniger als die Hälfte. Leider waren darunter auch nicht immer geeignete Leute; wir mußten es erleben, daß zwei der von uns ausgebildeten Kirchenmusiker den Anforderungen des praktischen Dienstes nicht genügten, und die Gemeinde froh war, wieder einen bewährten, nebenamtlichen Organisten und Chorregenten zu bekommen! Aber auch tüchtige, einsatzbereite junge Musiker konnten nur schwer und nach geraumer Zeit erst untergebracht werden, so daß manchmal eine Stimmung der Mutlosigkeit um sich griff: Wofür studieren wir eigentlich? Ich betone, daß ich bei der bischöflichen Behörde stets das lebhafteste Interesse für unsere Bestrebungen und jede nur mögliche Unterstützung gefunden habe. Was aber auf katholischer Seite fehlte, war die Tätigkeit eines Landeskirchenmusikwartes, der neben allen anderen Eigenschaften auch ein guter und geschickter Propagandist sein muß! So kam es, daß sehr tüchtige junge Musiker, die ihre hauptamtliche Abschlußprüfung hinter sich hatten, sich mit ganz unzulänglich bezahlten nebenamtlichen Stellungen zufrieden geben mußten, und ihr Amt eigentlich nur aus Idealismus weiterbekleiden sie könnten viel mehr verdienen, wenn sie der Kirchenmusik den Rücken drehen würden. Sie bleiben ihr aber treu, weil sie sich aus innerster Berufung als Kirchenmusiker fühlen. Nun können natürlich Notzeiten eintreten, in denen die Kirche von denen, die ihr dienen, verlangen muß, daß sie es auch unter Verzicht auf äußeren Lohn tun, und ein solcher Verzicht ist immer gern geleistet worden. Aber man darf die Zwangslage von Notzeiten nicht zur normalen Einrichtung machen. Wer seinen Dienst nebenamtlich tun muß, der tut ihn vielleicht so gut wie hauptamtlich, aber er hat keine Kraft und keine Zeit mehr übrig, auszustrahlen, befruchtend zu wirken. Er muß die Hauptsorge der Frage der nackten Existenz widmen, und man wird verstehen, wenn er dann manchmal müde wird und seinen Dienst nur noch als "Nebenamt" versieht. Es ist der evangelischen Kirche hoch anzurechnen, daß sie in Zeiten, da die allgemeine Haushaltsdevise "Sparen und wieder Sparen" hieß, doch den Mut gehabt hat, einen Fonds von einigen tausend Mark für hauptamtliche Kirchenmusikstellen in den Haushaltsplan einzustellen und diesen Posten sogar mehrmals zu erhöhen, eine Ausgabe allerdings, die sich gewiß reich gelohnt hat.

Die Pflege der katholischen Kirchenmusik in Württemberg ist bekanntlich dem Caecilienverein unterstellt, der naturgemäß andere Aufgaben hat, als den Nachwuchs junger Kirchenmusiker sicherzustellen und sich für eine Auslese einzusetzen. Auch das "Institut für katholische Kirchenmusik" allein tut"s nicht. Es muß die Studierenden nehmen, wie es sie bekommt. Gegenwärtig in der Kriegszeit sind wir natürlich noch besonders dezimiert, so daß, wenn wir heute eine oder zwei größere Stellungen besetzen sollten, wir in Verlegenheit kämen, dafür jemanden zu nennen! Dennoch sollte man mit diesen Fragen doch nicht zuwarten, bis wieder "normale Zeiten" kommen, sondern man sollte ihre Lösung schon jetzt vorbereiten. Ich sehe ein, daß die Sorge der Kirche um die Bereitstellung von Hilfsorganisten zur Zeit dringender ist; wenn aber nur ein halbes Dutzend junger, gut und umfassend ausgebildeter Kirchenmusiker in den Hauptorten von Württemberg säßen, dann wären das ebensoviele kirchenmusikalische Zentren, von denen Anregung auch auf dieses Gebiet ausstrahlen würde. Auch eine Altersgrenze sollte festgesetzt werden, etwa das siebzigste Lebensjahr, mit dem sich ein verdienter Veteran der Kirchenmusik mit Ehren in den Ruhestand versetzen lassen sollte, wenigstens dann, wenn ein junger, hauptamtlicher Bewerber um diese Stellung zur Verfügung stehen sollte. Es kommt mir nicht zu, konkrete Vorschläge zu machen, aber es scheint mir doch, daß in der katholischen Kirchenmusik Württembergs bald etwa Ähnliches wie auf evangelischer Seite geschehen muß. Es sind, so viel ich sehen kann, viele Talente da, viel guter Wille und Einsatzbereitschaft, aber es fehlt bis jetzt die Stelle, die sie richtig zum Einsatz brächte. Was ich gerne erleben möchte, das wäre ein "Aufbruch der katholischen Kirchenmusik", - den der evangelischen miterlebt zu haben, zähle ich zu den größten Ereignissen meines Lebens.
(Ein zweiter Teil folgt.)



Quelle:
Magazin für religiöse Bildung, kath. Monatsschrift, Stuttgart
Juli 1940



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