1941 · Die Bach=Aufführungen

der Grischkat=Singkreise

Lange vor der Singbewegung gab es in Deutschland eine Bachbewegung, und bekanntlich hat die Singbewegung ihre Aufgaben auf anderen Gebieten gesucht und gefunden als in der Pflege der Bachschen Vokalmusik. Wenn aber vielleicht in keinem deutschen Land in den letzten zehn Jahren so viele Aufführungen Bachscher Kantaten und Passionen stattgefunden haben wie in Württemberg, trotzdem hier fast alle geschichtlichen Traditionen fehlten, so fällt der weitaus größte Anteil daran auf Hans Grischkat und die von ihm geleiteten Singkreise. Trotz aller durch den Krieg bedingten Erschwerungen hat er auch in diesem Winter zwei große Werke Bachs: die Johannes=Passion und das Weihnachtsoratorium, so herausgebracht, daß beide Abende sowohl der künstlerischen Höhe der Aufführungen, wie der Zahl der Besucher nach zu den Höhepunkten des Stuttgarter Musiklebens gezählt werden durften; nun ist auch er zur Wehrmacht einberufen, und seine musikalische Arbeit wohl bis zum Schluß des Krieges stillgelegt. Niemand weiß, wie die Verhältnisse sein werden, wenn er sie später einmal wieder aufnehmen wird. Daher sei an dieser Stelle ein Überblick über die Entwicklung seiner Arbeit gegeben.

Das scheint mir das Wesentliche, daß sich diese Arbeit stetig entwickelt hat. Ursprünglich mag es wohl nur die Freude am Zusammen=Musizieren in größeren Formen gewesen sein, was den Reutlinger Singkreis an das Einstudieren Bachscher Kantaten gehen ließ. Das vom Württ. Bachverein 1934 veranstaltete Fest in Stuttgart brachte u.a. Bachsche und Vor=Bachsche a capella=Stücke, deren Schönheit mir noch heute im Herzen nachklingt; der von auserlesenen Stimmen gebildete Schwäbische Singkreis sang sie. Nun wagte sich Grischkat mit der Matthäuspassion an eine ganz große Aufgabe; und eine erste Zusammenfassung aller Kräfte brachte im Jahr 1935 das weithin beachtete Reutlinger Bachfest. Diese Industriestadt, die trotz gewerblichen Reichtums keine Kunstpflege besaß, die sie über andere Orte ähnliche Größe hinausgehoben hätte, war nun auf einmal Bachfest=Stadt geworden. Da auch diese großen Aufführungen im Geist der Singbewegung veranstaltet wurden, also auch das Orchester (mit geringen Verstärkungen) aus dem "Spielkreis" sich zusammensetzte, auch die Solisten keine Solisten waren, sondern Einzelsänger und Einzelspieler, so fühlten auch die Hörer, daß in einem Geist musiziert wurde, der dem Bachs näher stand als oft bei Aufführungen von Konzertvereinigungen in großen Städten. Die Gefahr dieses Musizierens bestand bei so anspruchsvollen Werken darin, daß die Ausführenden den technischen Anforderungen der Musik nicht immer völlig gewachsen waren. In zäher, unermüdlicher Arbeit wurden aber die Ansprüche, die der Dirigent an sich und seine Mitarbeiter in Chor und Orchester stellte, von Jahr zu Jahr erhöht: das Ziel war eine soweit irgend erreichbare Werktreue. So kamen in den letzten Jahren Leistungen zustande, wie die (seit 1924 erste) ungekürzte Aufführung der Matthäuspassion in Stuttgart (1938 und 1939), der Johannespassion und des Weihnachtsoratoriums. Auch die h=moll=Messe hatte Grischkat schon 1936 angepackt, aber die Erfahrung gemacht (die wohl allerorts gemacht worden ist), daß sie noch schwerer ist als die Passionen und einen Stil verlangt, für den wir weder bei Bach selbst noch sonstwo Vorbilder haben.

Die Werktreue, die Grischkats Ziel ist, schließt Kürzungen aus; auch schwächere Arien bleiben bestehen, weil sie eben im Bauplan des Ganzen notwendig sind. Der Schreiber dieser Zeilen würde diesen Grundsatz nur bei einigen ganz großen Kunstwerken, nicht aber bei den durchschnittlichen, nicht immer gleichmäßig inspirierten Kantaten Bachs anwenden. Aus demselben Grund gibt es für Grischkat grundsätzlich keine Änderung geschmackloser Texte. Es ist wahr: wo da anfangen, wo aufhören? Und doch wäre ich auch da für Ausnahmen, wenn nämlich die "Dichtung" sich dem blühenden Unsinn nähert, wie z. B. die Arie aus der Matthäuspassion: "Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei, daß die Tropfen meiner Zähren angenehme Spezerei, treuer Jesu, dir gebären!" Hier ist ein Problem, das nicht nur äußerlicher Natur ist, sondern auch die Frage, wieweit Bachs Musik von dem Niveau dieser Texte (nicht von ihrem Inhalt!) unabhängig sei, in sich begreift; jedenfalls scheint mir die allgemeine Gleichgültigkeit, die heute diesen Fragen gegenüber besteht, kein gutes Zeichen zu sein.

Neben der Treue gegenüber dem Text der Dichtung und der Komposition wendet Grischkat die Forderung der Werktreue besonders auch auf die Besetzung an: der Chor soll nicht viel stärker als das Orchester sein (schon Albert Schweitzer hatte diese Forderung aufgestellt). Aus den Forschungen, die Arnold Schering in den letzten Jahren veröffentlichte, zog Grischkat praktische Folgerungen, z. B. bei allen kirchlichen Werken das Cembalo wegzulassen und die Ausführung des bezifferten Basses allein der Orgel zu übertragen. Auch mit diesen Forderungen stimme ich überein, so weit es sich um die Passionen und die Messe handelt; in vielen Kantaten aber würde dem Stil der Arien ein Cembalo besser gerecht als die Orgel. (Ganz nebenbei sei bemerkt, daß die gedruckten Continuostimmen zu Bachs Werken dringend eine Revision nötig haben; im Rahmen dieses kurzen Aufsatzes kann aber darauf nicht eingegangen werden.)

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Phrasierung und Artikulation; wer viele Bachsche Partituren gesehen hat, findet immerhin dort so viele Bezeichnungen, daß er die fehlenden stilgerecht oder einigermaßen stilgerecht ergänzen kann. Man muß nur Geduld und Sorgfalt genug aufwenden, sie in alle Stimmen gleichmäßig einzutragen, eine Forderung, die in Grischkats Aufführungen stets, oft bis zur Pedanterie, erfüllt ist.

Dagegen lassen auch heute noch zwei andere Gebiete bei der
Wiedergabe dem Dirigenten mehr Freiheit, als ihm oft lieb ist: Zeitmaß und Dynamik. Beide sind nicht vorgeschrieben und gehen nicht eindeutig aus dem Werk hervor. Grischkat verzichtet dem lebendigen Ausdruck zuliebe auf eine starre Durchführung des Zeitmaßes und der Terrassendynamik, ritardando und diminuendo richten sich meist nach dem inneren, durch die Musik oder den Text gegebenen Ausdruck einer Stelle; hier sind (bei ihm, wie bei allen anderen Bachinterpreten: Straube, Ramin, Reinhardt u. a.) die subjektiven, angreifbaren Punkte der Wiedergabe, - freilich fehlen hier auch die wissenschaftlichen Grundlagen fast völlig.

Von einem Wissen um all diese Dinge bis zu ihrer Verwirklichung ist aber ein weiter Weg. Eine unermüdliche Kleinarbeit in Proben und ganz besonders in der Vorbereitung der Proben ist dazu nötig. Wenn viele Dirigenten trotz eines guten Chormaterials nur mäßige Aufführungen zustandebekommen, so liegt das meist an einer nicht genügenden Vorbereitung der Proben, deutlicher gesprochen, an einer ungenügenden Bezeichnung der Stimmen. Ganz besonders müssen die Orchesterstimmen in jedem Takt in bezug auf Dynamik und Stricharten genau bezeichnet sein, und diese Bezeichnungen müssen mit der Partitur übereinstimmen. Wieviel Zeit wird ferner bei Grischkat in Proben dadurch erspart, daß alle Takte durchnumeriert sind! Zu dieser Arbeit sind Helfer nötig, wie sie auch leichter in Singkreisen als in Chorvereinen zu finden sind.

So wirken bei Grischkat ein außergewöhnliches Organisationstalent, eine peinliche Gewissenhaftigkeit, unermüdlicher Fleiß, ein selbstloser Einsatz, den er selbst leistet und darum mit Recht auch von anderen fordert, zusammen, um seiner und seiner Mitwirkenden Musikalität das Fundament zu geben, auf dem der feste, sauber gefügte Bau einer Wiedergabe dieser großen Bachschen Werke aufgeführt werden kann. Die Vollendung einer solchen gestellten Aufgabe, das Erlebnis, daß wirklich alles so klingt, wie es sich der Dirigent gedacht hat, das sind für ihn Höhepunkte des Lebens, die auch vom Chor und Orchester so empfunden werden, und etwas von dieser Begeisterung teilt sich auch dem Hörer mit und verleiht den Aufführungen Grischkats jenen Schimmer, der aus der Harmonie des künstlerischen und des menschlichen Einsatzes entsteht.

So hat die Bachpflege nicht nur Württembergs, sondern Deutschlands, Grischkat und seinen Singkreises zu danken. Die Zahl der von ihm aufgeführten Kantaten die nur von den Thomanern in Leipzig übertroffen wird -, die Zahl der Aufführungen, besonders auch in kleineren Orten Württembergs, die künstlerische Höhe dieser Aufführungen, die sich beständig gehoben hat und in den letzten Jahren nahe dem Niveau war, das man von norddeutschen Festen der Neuen Bachgesellschaft gewohnt ist, all das verpflichtet uns zu aufrichtigem Dank gegenüber einem Manne, ohne dessen nimmermüden Einsatz das alles nicht möglich gewesen wäre. Auch die ev. Kirchenmusik hat ihm dafür zu danken, daß durch seine Initiative Bachsche Kantaten von den Emporen unserer Kirchen klingen. Freilich erklingen sie nicht da, wofür ihr Schöpfer sie bestimmt hatte: im Gottesdienst. Das Chorbuch von Gölz hat uns gezeigt, daß die gottesdienstliche Musik, auf deren Wiederbelebung jetzt alles ankommt, hundert und zweihundert Jahre früher geschrieben worden ist. Die Bestrebungen, Bachs Kantaten wieder ihren festen Platz im Vormittags=Gottesdienst anzuweisen, sind verstummt (ein paar Ausnahmen abgerechnet), und mit Recht: diese Werke waren schon damals mehr konzertierende als gottesdienstliche Musik. Und welcher große Chorverein könnte heute wagen, solche Werke im Konzertsaal darzubieten? So ist vorauszusehen, daß zumindesten für die nächste Zeit sowohl Händels alttestamentliche Oratorien, als Bachs Kirchenkantaten im allgemeinen sehr sehr selten zu hören sein werden. Daß dies sowohl für die deutsche Musikpflege überhaupt, als für die evangelische Kirchenmusik im besonderen eine schmerzliche Einbuße bedeutet, liegt auf der Hand. Darum haben wir Kirchenmusiker Grischkat besonders dafür zu danken, daß er die Kantaten Bachs äußerlich zwar konzertmäßig, der inneren Haltung nach aber als musikalische Gottesdienste aufführt, wie es schon Spitta und Schweitzer gefordert haben und wie es dem Geist der Werke und dem Geist des Raumes, in dem sie erklingen, einzig angemessen ist.
H. K.

[H. K. = Hermann Keller lt. Inhaltsverzeichnis]





Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
15. Jahrgang Nr. 2, Februar 1941