1947 · J. S. Bach

und die Säkularisation der Kirchenmusik

Allen großen Religionen scheint gemeinsam zu sein, daß sie von einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung ab mehr und mehr ihre ursprüngliche Kraft verlieren, wie ein Fluß, der, im Gebirge entsprungen, zuerst rasch, hell und klar strömt, aber in den Niederungen des Flachlandes immer mehr fremde Bestandteile in sich aufnimmt, immer mehr Bodensatz mit sich führt, träger und schmutziger fließt, bis er schließlich in dem Augenblick, da er ins Meer mündet, sich völlig aufgibt. In den Religionen tritt an die Stelle der ursprünglich selbstverständlichen Glaubenseinheit die offizielle Festlegung von Dogmen, die Ausarbeitung von kirchlichen Gesetzbüchern, der Ausbau eines ausgedehnten Verwaltungs-Apparates, dazu treten tausend Kompromisse, die mit der Umwelt abzuschließen sind, der Kampf gegen Irrlehren, der bis zur Spaltung der Kirche führen kann, all das und noch vieles andere bedeutet einen Kampf, der unter immer ungünstigeren Vorzeichen geführt werden muß, je weiter sich die Religion von ihrem Ursprung entfernt hat. Nur schwach und gedämpft dringt das helle Licht der göttlichen Offenbarung später durch den Dunst der Jahrhunderte.

Die am stärksten erhaltenden Kräfte, welche die christliche Kirche diesem zwangsläufigen Verfall entgegenzustellen hatte und noch hat, sind ihre kultischen Symbole. Sie bleiben, so sehr auch die verstandesmäßige Auslegung der Lehre dem Wechsel unterworfen sein mag. Ihren reichsten Ausdruck finden diese Symbole in den Gottesdienst-Ordnungen der östlichen und wenngleich schon etwas schwächer in denen der westlichen Kirche, vor allem im Meßgottesdienst. Dieser ist aber ohne Mitwirkung der Musik nicht zu denken. Die Musik gehört also und dies ist die wichtige Erkenntnis, die an den Anfang dieser Untersuchung gesetzt sei zu den stärksten bewahrenden Kräften der Kirche, sie verhindert am wirksamsten die allmähliche Austrocknung der Religion in Morallehre und Dogma. Da die Musik ihrem Wesen nach nicht erfaßbar ist, so ist sie geradezu prädestiniert, Symbol des nicht Erfaßbaren in der Religion zu sein. Wenn die katholische Kirche einen verhältnismäßig großen Teil ihrer Substanz durch alle Erschütterungen ihrer Geschichte hindurchgerettet hat, so verdankt sie das nicht zum wenigsten dem gregorianischen Choral. Seine Wiederherstellung im 19. Jahrhundert und seine offizielle Wiedereinführung zu Anfang unseres Jahrhunderts war daher eine Tat, deren Bedeutung weit über die einer bloß stilistischen Reform hinausgeht.

Ihre schwerste Krise hat die westliche christliche Kirche in der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts erlebt. Die beiden neuen Glaubensgemeinschaften, die aus dieser Spaltung hervorgegangen sind, die reformierte und die protestantische Kirche, haben sich sehr verschieden dem liturgischen Erbe der alten Kirche gegenüber verhalten. Die reformierte hat es nahezu ganz über Bord geworfen, mit dem Erfolg, daß in den calvinistischen Ländern nicht nur die Kirchenmusik, sondern die Musik überhaupt seither keine großen Leistungen mehr hervorgebracht hat (diese Länder haben aber den Ausfall durch vermehrte praktische Tüchtigkeit und strengere Moral zu kompensieren vermocht).

Die protestantische Kirche hat einen Mittelweg eingeschlagen und hat im deutschen Gemeindelied der Reformationszeit ein neues helles Licht angezündet, das durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart leuchtet. Der Choral der Lutherzeit ersetzte als deutsches geistliches Volkslied immer mehr den lateinischen liturgischen Gesang der Kirche; sein Vorzug ist, daß er deutsch und volksverbunden ist, er hat nichts mehr von der uralten Heiligkeit der gregorianischen Melodien. Er gab aber der Tonkunst neue, mächtige Impulse, und so ist es wiederum die Musik, die sich dem Abstieg der lutherischen Kirche wirksam entgegenstemmt und ihn zwei Jahrhunderte lang von Luther bis Bach aufhält: dann freilich ist auch seine Kraft erschöpft und verbraucht, und der Protestantismus tritt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in das Stadium seines tiefsten Verfalls, seiner größten inneren Schwäche. Es ist die Zeit, in der die Kirche die Bundesgenossenschaft der Musik ganz oder fast ganz entbehren muß; eine Aufwärtsbewegung beginnt erst gleichzeitig mit dem Aufblühen der kirchlichen Singbewegung seit etwa 50 Jahren. Der Satz: "Die Geschichte der Reformation ist die Geschichte ihres Verfalls" wäre also in der Tat richtig, wenn sich nicht die Musik, als die große Bewahrerin, diesem Verfall entgegengestellt hätte. Da die alten heiligen Gebräuche der Kirche von Luther zwar noch als schätzenswerte Ordnungen, aber nicht als mehr angesehen werden, so fiel der Musik die wichtige Aufgabe zu, diese übrig gebliebenen Ordnungen so zu vertiefen, daß sie wieder "Liturgie", das heißt "heilige Handlung" werden könnten.

So werden der Musik durch die Reformation derartig viele und neue Aufgaben gesetzt, daß die Zeit von Luther bis Bach geradezu als eine Blütezeit der deutschen Musik unter Führung der evangelischen Kirchenmusik gelten kann. Man hat schon verwundert gefragt, warum der dreißigjährige Krieg nicht mehr Spuren in der Musik der Zeit hinterlassen habe. Er hat in der Tat die Musik in ihren tiefsten Gründen gar nicht berührt, sondern lediglich durch seine Folgen ihre Ausübung erschwert. Auch hier ist nicht auszudenken, wieviel die evangelische Kirche in den Zeiten während und nach dem Krieg der bewahrenden Kraft der Musik zu verdanken hat.

Wie konnte es aber zu dem Zusammenbruch der evangelischen Kirchenmusik um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kommen? Und warum konnte Bach mit seinem gigantischen Lebenswerk diesen Zusammenbruch nicht aufhalten?

Um diese Fragen richtig zu verstehen, muß man davon ausgehen, daß die Lieder Luthers und seiner Zeitgenossen in nächster Nähe der weltlichen Musik und Dichtung entstanden waren. Die Technik ihrer Verarbeitung war aber zunächst noch ganz die des spätgotischen Stils; wie in der Raumkunst der Kirchenbau für die weltlichen Bauten vorbildlich war, so war auch in der Musik die Technik geistlicher polyphoner Sätze vorbildlich für die der weltlichen Lied- und Instrumentalsätze. Aber schon in der nächsten Generation verkehrt sich das ins Gegenteil: der Stil und die Technik der süditalienischen Volkslieder (Villanellen) wird maßgebend auch für die protestantischen Choralsätze (Melodie im Sopran, harmonischer Satz). Es ist eine Wasserscheide, scheinbar nichts weiter, eine kaum bemerkbare Grenze, aber der Lauf der Wasser geht nun nach der entgegengesetzten Richtung.

Nur wenige Jahrzehnte (etwa 1570 1615) dauert dieser Einbruch der italienischen Hochrenaissance in die deutsche Musik, auch in die evangelische Kirchenmusik, um alsbald von der neuen mächtigen Bewegung des Barock abgelöst zu werden. In ihr und durch sie entscheidet sich das Schicksal der evangelischen Kirchenmusik.

II.

Äußerlich gesehen hat die evangelische Kirchenmusik durch die neuen Stilmittel des Barock (Generalbaß, Monodie, konzertierender Stil mit Instrumenten) einen gewaltigen Auftrieb und eine ungeheure Verbreiterung erfahren. Schier unermeßlich ist die Zahl der geistlichen Konzerte, Kirchenkantaten, Oratorien, die komponiert und aufgeführt wurden, es sind unsterbliche und rasch vergängliche, hochbedeutende und rasch hingeworfene Tagesarbeiten darunter; was sie aber trotz der außerordentlichen Verschiedenheit der Faktur und der Qualität zu einer Einheit zusammenhält, das ist nicht ihre Bestimmung als gottesdienliche Musik, sondern ihre Einordnung in den gewaltigen, herrischen Stil des Barock. Die geistlichen Konzerte von Schütz wie die Kirchenkantaten von Johann Sebastian Bach sind wohl ihrer äußeren Bestimmung nach Bestandteile des lutherischen Gottesdienstes, ihrem Wesen nach aber konzertante Musik des Barocks.

Die Musikgeschichte des Barock aber läßt sich nur von der Geschichte derjenigen Gattung aus begreifen, der gegenüber alle anderen Gebiete an Bedeutung weit zurücktreten, der Oper. Die meisten Komponisten, von denen wir Klavier-, Kammermusik- oder Orgel-Werke kennen und spielen, haben in erster Linie Opern geschrieben; da diese bis heute nicht wieder zum Leben erweckt worden sind, so leben Komponisten wie Purcell, Rameau, K. H. Graun, Galuppi, J. A. Hasse und viele andere fast nur in mehr oder weniger belanglosen Nebenwerken fort. Die selbständige Entwicklung der Instrumentalmusik seit dem 17. Jahrhundert ist der Kirchenmusik, die an das Wort gebunden ist, nicht unmittelbar und nur zu einem kleinen Teil zu gute gekommen, vielmehr ist von Schütz bis Bach die Geschichte der evangelischen wie der katholischen Kirchenmusik auf das engste mit der Geschichte der Oper verknüpft. Das ist so seltsam und zunächst unglaubhaft, daß diese beiden äußersten Extreme, die heidnisch-mythologische Oper des Barock und die Vertonung der Luther-Bibel für den evangelischen Gottesdienst dem selben Stilwillen Untertan sein sollen , daß diese Behauptung erst bewiesen werden muß.

Das gleiche, was von der Reformation behauptet worden ist, daß nämlich ihre Geschichte die Geschichte ihres Verfalls sei, läßt sich auch, und mit noch mehr Berechtigung von der Oper sagen. Sie beginnt von hohem Idealismus getragen als Wiedererweckung des antiken Dramas, verlangt leidenschaftlich von der Musik die unbedingte Unterwerfung unter die höhere Ordnung des Musikdramas, Richard Wagner hätte seine Forderungen in den Frühwerken des 17. Jahrhunderts (die er nicht kannte), fast restlos verwirklicht gefunden. Die hierzu neu erfundene Gattung des ausdrucksvollen recitativischen Sologesangs wurde alsbald in die Kirchenmusik übertragen; mußte denn ein Stil, dessen Grundforderung war, daß die Tonkunst bedingungslos dem "Wort" Untertan sein müsse, nicht in geradezu idealer Weise den strengsten Anforderungen der Kirche an ihre Musik entsprechen? Der Meister, der diese Synthese vollzog, war Heinrich Schütz. Nicht seine persönliche Genialität machte ihn zum Großmeister der frühbarocken Kirchenmusik, sondern seine Verbundenheit mit dem großartig einfachen und wahren Frühstil der Oper (
Monteverdi).

Von dieser Höhe sinkt die Oper im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer weiter herunter; sie hält sowohl textlich wie in der dramatischen Idee ihr ursprüngliches Niveau nicht, und an den freigewordenen ersten Platz setzt sich mehr und mehr die Musik. In gleicher Weise wie mit der Oper geht es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Kirchenmusik bergab; die Kantaten von Tunder, Krieger, Buxtehude und einem Dutzend anderer, fruchtbarer Komponisten lassen sich in keiner Weise mehr mit Schütz vergleichen, und zwar auch nicht wegen des unbestreitbaren Abstandes an persönlicher Genialität, sondern wegen der Minderwertigkeit des Zeitstils, dem sie noch mehr unterworfen waren als das bei ganz Großen der Fall war. Der tiefste Punkt in dieser absteigenden Entwicklung liegt etwa zwischen 1700 und 1720: die Oper ist zur reinen "Musizier-Oper" (wie man jetzt zeitbeschönigend sagt, wenn von Händels Opern die Rede ist) entartet; der leere Raum, den das Drama bei seinem Zurückweichen hinterlassen hat, ist völlig von der Musik eingenommen, die sich mit bedenkenlosem Egoismus an die erste Stelle setzt und da ihre Formen (besonders die große da Capo-Arie) ausbreitet.

In der von der Oper abhängigen Kirchenmusik ist die parallele Erscheinung ebenfalls zunächst das geschmackliche Absinken der Texte, etwa der zunehmende Ersatz des Bibelworts durch abgeschmackte modische Dichtung; der Passionstext von Hunold stellt wohl die tiefste Entartung vor, die man sich denken kann. Und wie in der Oper setzt sich nun die Musik in die vorderste Szene, der Koloraturstil der Oper dringt in zunehmendem Maße in die Kirchenmusik ein. Wie jede virtuose Leistung ist der Koloratur-Gesang, dessen Höhe in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von keiner späteren Zeit auch nicht vom Zeitalter Rossinis mehr erreicht worden ist, zu allererst auf die Eitelkeit und den Ruhm des Solisten gerichtet, und das ist wohl das genaue Gegenteil dessen, was in der Kirchenmusik zu allen Zeiten an innerer Haltung verlangt worden ist (selbst der Opernstil Verdis in seinem Requiem ist noch "kirchlich" gegenüber dem durchschnittlichen Koloraturstil der Kirchenmusik zwischen 1700 und 1740). Dazu kommt, daß dieser ganz auf Sinnlichkeit, Eleganz und Esprit gestellte italienische Stil bei seiner Verpflanzung in das kältere Deutschland und bei seiner Einengung in den protestantischen Gottesdienst das Beste verlieren und vielfach schal, ja albern wirken mußte. Daß auch Händels Oratorien unter diesem allzu bedenkenlos von der Oper herübergenommenen Stil zu leiden haben und durch ihn heruntergezogen werden, sei nur nebenbei bemerkt; hier, nicht in den alttestamentlichen Texten, liegt der Grund, warum sie so selten zu hören sind.

Von ihrem Tiefpunkt zu Beginn des 18. Jahrhunderts erhebt sich aber die Oper langsam wieder, so daß Glucks Reform auf einen wohlvorbereiteten Boden trifft: Metastasio hebt das Niveau der Libretti, die Komponisten der sogenannten neuneapolitanischen Schule bevorzugen die kürzere, wärmere Arietta vor der kalten und schon abgestandenen Pracht der barocken Da Capo-Arie. Besonders aber ist es die Konkurrenz des Singspiels, das in seinen Anfängen als Verspottung der Oper auftritt (The beggars-Opera) und so die Oper zwingt, ihre heillose Unnatur wenigstens zum Teil abzulegen. Mit der "Zauberflöte" und "Fidelio" fließen beide Ströme zusammen, es entsteht die "Dialog-Oper"; diese Entwicklung fällt aber außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung, denn diese Reformen haben auf die Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik keinen Einfluß mehr gehabt, da der letzte große Kirchenmusiker, Johann Sebastian Bach, von diesen Strömungen nicht mehr gelenkt worden ist.

III.

Um Bachs Stellung in seiner Zeit richtig zu verstehen, ist es ein gutes Hilfsmittel, sich die Musikgeschichte einmal ohne ihn vorzustellen. Hätte Bach "zufällig" nicht gelebt, so sähen wir den Höhepunkt deutscher Orgelkunst bei Buxtehude und Bruhns, in der Kammermusik wäre es Händel (sofern er zur deutschen Musikgeschichte zu zählen ist), in der deutschen Klaviermusik wäre niemand da, der neben Couperin und Scarlatti genannt werden könnte, ebenso würde (wiederum außer Händel) eine größere Begabung auf dem Gebiete der Kantate und des Oratoriums völlig fehlen. Die Entwicklung der Musik hätte sich aber auch ohne Bach genau so vollzogen, denn sie ging ja am lebenden Bach genau so vorbei, wie er an ihr. Ist nun Bach der große Unzeitgemäße, der von einem kleinen Geschlecht nicht verstanden wird, in dessen Werk sich "Jahrhunderte des Christentums summieren", dessen Werk zwar den Verfall der Kirchenmusik nicht aufhalten konnte, das aber erst jetzt, seit hundert Jahren, wirklich lebendig unter uns ist und bleiben wird? Oder finden wir auch in Bachs Werken Spuren des Niedergangs, das heißt der Verweltlichung, die es begreiflich machen, daß sie als Kirchenmusik untergehen mußten und nach hundert Jahren nur als Konzertmusik wieaer auferstehen konnten? Bilden Bachs Kantaten und Oratorien das A und O der evangelischen Kirchenmusik, sind sie Kunstwerke von zeitloser Geltung, durchdrungen von wahrhaft christlicher Haltung, oder stehen sie an der Peripherie des Begriffs Kirchenmusik, und so nahe an ihrem Rande, daß ein Schritt weiter Graun, Tod Jesu bereits die Scene aus der Kirche in den Konzertsaal verlegt? Kurz und praktisch gesprochen: soll man sich dafür einsetzen, daß Bachs Kantaten wieder im Gottesdienst erklingen sollen, oder muß man solchen gut gemeinten Versuchen mit grundsätzlichen Bedenken entgegentreten?

Ich glaube, das letztere ist der Fall. Wenn man unter Kirchenmusik nicht schlechthin jede Musik versteht, die jemals für den Gottesdienst komponiert und in ihm aufgeführt worden ist, sondern solche, die ihrem Wesen und Stil nach würdig ist, im Gottesdienst zu erklingen, so gehören Bachs Kantaten trotz ihres hohen musikalischen Wertes nicht dazu, wenigstens nicht nach den Begriffen, die wir heute vom Gottesdienst der evangelischen Kirche haben (von den Oratorien und Passionen braucht hier nicht die Rede zu sein, da sie ihres Umfanges wegen heute als Kirchenmusik von vornherein nicht in Betracht kommen).

Von jeder rechten, wahren Kirchenmusik gilt ja, was Richard Gölz im Nachwort zu seinem "Chorbuch" ausgesprochen hat: "das Schönste an diesen alten Tonsätzen sind die Texte". Merkwürdigerweise hängen ja Oper und Kirchenmusik auch darin zusammen, daß letzten Endes der Text (bei der Oper nicht die Dichtung, die schlecht sein kann, sondern die dramatische Handlung, die unbedingt gut sein muß) entscheidet. Noch nie hat sich eine reine "Musik-Oper" auch nur einige Jahrzehnte halten können. Nun ist ja bei den Kantaten die gedankliche Einheit durch den Text des betreffenden Sonntags gegeben, aber um so größer ist die stilistische Verschiedenheit dieser Texte: neben Bibelwort (Eingangschor) und Gesangbuchvers (Schlußchoral) stehen modische Dichtung als Paraphrasen des gestellten Themas. Wie niedrig das Niveau dieser Machwerke ist, brauche ich nicht auszuführen, das ist in der Literatur von jeher bedauernd und entschuldigend festgestellt worden. Wenn dieser Mangel von den meisten Zuhörern gar nicht empfunden wird, so rührt das davon her, daß man sich angewöhnt hat, bei gesanglichen und musik-dramatischen Darbietungen nur auf die Musik und besonders auf die musikalische Ausführung zu achten. Vielleicht mit Recht? "Was zu dumm ist, gesprochen zu werden, das singt man"; dieser Satz gilt leider nicht nur für die Oper, sondern auch für weite Gebiete der Kirchenmusik. Er gilt aber nicht für die wichtigsten Gebiete der katholischen Kirchenmusik, für Messe, Requiem, Magnificat, bei denen der liturgische Text ein für alle Male gegeben ist, er gilt auch nicht für die ältere evangelische Kirchenmusik (Hasler, Schütz), die sich auf Bibelwort und Gesangbuch beschränkt (die "Cantiones sacrae" von Schütz mit ihren freien Texten sind eine Ausnahme), aber er gilt für die Arien-Texte der Kantaten. Ich bewundere oft unsere Oratoriensänger, die es fertig bringen, mit Ernst und Würde Texte wie etwa den folgenden zu singen: "Buß und Reu knirscht das Sünderherz entzwei, daß die Tropfen meiner Zähren angenehme Spezerei, treuer Jesus, dir gebären."

Aber nicht der geringe oder negative rein dichterische Wert ist es, der uns zwingt, diese Texte abzulehnen, sondern ihre fast völlige Entleerung von religiösem Gehalt. Das leere, prunkende rhetorische Pathos der Predigten des 17. Jahrhunderts hatte die Gegenbewegung des Pietismus hervorgerufen als eine offene, unablässige Anklage gegen die zunehmende Verweltlichung der offiziellen Kirche. Das selbe Pathos finden wir noch in den früheren Kantaten-Texten Bachs, in seinen späteren (Leipzigern) aber vielfach statt dessen ein oberflächliches Spiel mit religiösen Vorstellungen und Begriffen. Man muß Picanders "Ernste, scherzhafte und satirische Gedichte" kennen, um zu sehen, daß er darin völlig derselbe wie in seinen kirchen-musikalischen Texten ist. Es gibt nichts, was ihm oder seiner Generation ernst wäre, weder Liebe, noch Wein, noch Freundschaft, noch Christentum, diese Poeten besingen alles in der selben unverbindlich tändelnden Weise, sie sind die "Lauen, die ausgespien werden". Und wir sollten heute, nach zweihundert Jahren tiefster Umwälzungen, nach dem Grauen zweier Weltkriege an diesen Stil eine Regeneration der Kirchenmusik anzuknüpfen versuchen?

Ist es nun aber nicht so, daß die Musik (nach Goethes Worten) alles veredelt, was sie anfaßt, daß Bachs Musik auch diese Texte unendlich veredelt? Gewiß tut sie das, sonst würden wir diese Werke gar nicht mehr aufführen, so wie wir die Passionsmusiken von Händel, Keiser, Mattheson oder Ph. E. Bach nicht mehr aufführen. Die Stärke und Reinheit Bachs läßt uns daher im Konzert einen reichen Genuß erleben, sie veredelt aber die Texte doch nicht so weit, daß seine Kantaten wirkliche Kirchenmusik werden könnten. Auch aus musikalischen Gründen nicht: Alle Komponisten zu Bachs Zeit und auch er selbst haben aus der neapolitanischen Oper das Recitativ und die dreiteilige Koloratur-Arie in die Kirchenmusik übernommen, daß das ohne Widerspruch möglich war, zeigt, wie weit die Verweltlichung der Kirche schon fortgeschritten war. Das Recitativ war in der Oper am Platz; es diente dazu, die Situation zu klären, die in der folgenden Arie lyrisch dargestellt wurde; in der Kantate bringt es lediglich die Gedanken des Textdichters zu "besonders deutlichem Ausdruck, wird aber gerade wegen seiner Deutlichkeit und Verständlichkeit vom Publikum in der Regel mehr geschätzt als die Arien, mit denen es oft nicht viel anzufangen weiß. Tritt zwischen Recitativ und Arie ein Arioso, so vermittelt dies meist sehr glücklich zwischen beiden, in manchen Fällen würden wir danach gerne auf die Arie verzichten.

Was mag Bach wohl bewogen haben, diese Opernform der Arie in seine Kirchenmusik aufzunehmen? Doch nur das Bestreben, sich auf der geforderten Höhe des Zeitgeschmackes zu halten. Er hat es in der bekannten Eingabe an den Rat der Stadt Leipzig ausgesprochen, daß seit dem Tod seines Vorgängers Kuhnau der Geschmack sich so verändert habe und die Ansprüche an die Ausführung so gestiegen seien, daß er mit den ihm zur Verfügung stehenden, oft schlechten Kräften diese Aufgaben nicht bewältigen könne, an dem Stil selbst Kritik zu üben, lag Bach völlig fern, wie er wohl auch an der Predigt oder der Gottesdienstordnung seiner Zeit keine Kritik geübt hat. Er versuchte, das Beste daraus zu machen: großartige Eingangssätze mit Chor und Orchester, ausdrucksvolle vierstimmige Choralsätze, lebendig und packend deklamierte Rezitative, Arien mit obligaten Instrumenten und einer oft tiefsinnigen Ton-Symbolik, aber genügte das, um alle diese so heterogenen Elemente zu einer Einheit zusammenzuzwingen und ihnen den Stempel eines kirchlichen Musikwerks aufzudrücken?

Die Frage ist wohl zu verneinen: Der Hörer von Kantaten-Aufführungen, beim Eingangschor erhoben und gepackt, pflegt mehr oder weniger gottergeben die unvermeidlichen Arien abzusitzen und sich auf den Schlußchoral zu freuen. Selbst von der Matthäus-Passion bekennen viele Zuhörer: das Schönste seien halt doch die Choräle, also das, wozu Bach am wenigsten dazugetan hat, nämlich lediglich die Harmonisierung, also wenig genug. Die Sängerinnen, die in Kirchenkonzerten Bach singen wollen, sind gezwungen, immer wieder zu den sogenannten "Bach-Liedern" zu greifen, das heißt zu den 69 Chorälen des Schemellischen Gesangbuches, die Bach harmonisiert hat (nur ganz wenige Melodien sind ja von ihm); aber selbst diese Pseudo-Bach-Lieder mit ihren zum Teil erbärmlichen Texten sind den meisten Arien noch vorzuziehen.

Freilich, wer vom Standpunkt des reinen Musikers an diese Arien herangeht, wird sich immer wieder vor musikalisch interessante Aufgaben gestellt sehen; wenn aber in der Kirchenmusik das Subjekt (der Mensch) vor dem Objekt (dem Göttlichen) demütig zurücktreten soll, dann sind diese Arien gewiß keine Kirchenmusik. Beethoven, der ja gewiß nicht kirchenfromm war, hat in der Ueberschrift der Missa solemnis: "Mit Andacht" "Von Herzen, möge es zu Herzen gehen" die Aufgabe echter Kirchenmusik einfach und wahr umrissen. Eine barocke Koloratur-Arie aber kommt weder vom Herzen, noch soll sie zu Herzen gehen: sie soll vielmehr durch ihren reichen Schmuck die Phantasie des Hörers beflügeln und durch ihren prächtigen Aufputz festlich wirken, das ist etwas ganz anderes. Dazu kommt, daß bei Bach in vielen Fällen ein an sich nebensächliches Bild die Tonsprache der betreffenden Arie bestimmt hat, am Hauptinhalt des Textes musiziert Bach oft genug vorbei. Beispiel: die Kantate 45 "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist". Der Text spricht vom ewigen Gericht, von Taten, die ihren Lohn finden, gewiß kein leichter Vorwurf für den Musiker. Die Paraphrasen dieses Textes durch den Librettisten erleichterten Bach die Arbeit bei den Arien; dagegen hatte er zum Eingang des zweiten Teils wieder reine Bibelworte zu vertonen: "Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: "Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Taten getan?" Dann werde ich ihnen bekennen: "Ich habe euch noch nie erkannt; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!"

Wahrlich ein Text von einer erschütternden Härte. Betrachten wir nun aber Bachs Musik, so erscheint sie geradezu heiter und festlich bewegt, in vielem der Tonsprache des A-Dur-Klavierkonzerts, des 5. Brandenburgischen Konzerts, des einzelstehenden Symphoniesatzes in D dur verwandt zu sein; wie sollte das zu diesem Text passen? Sicherlich hat Bach nicht gedankenlos an ihm vorbei komponiert, wahrscheinlich "bedeutet" also die lebhafte, energische Bewegung der Streicher, insbesondere der ersten Violinen, die Menge derer, die sich vor Gottes Thron drängen; auf die Worte "Weichet alle" bedient sich Bach derselben Tonsymbolik: die Unwürdigen werden mit Hilfe der selben energischen Tonfiguren verjagt. Bildhaft gesehen ist der musikalisch geniale Satz also als eine Art von Getümmel aufzufassen, eine im Barock auch in der Malerei oft gestellte Aufgabe. Aber wird sie hier dem Inhalt des Textes auch nur im geringsten gerecht? Wird hier nicht aus der erschütternden Drohung ein bunt bewegtes, ganz und gar nicht verzweifeltes Bild? Hätte man dem großen und tiefen Seelendeuter und Christen Bach nicht etwas ganz zutrauen dürfen? Kurz: ist diese Interpretation nicht allzu opernhaft barock? (Bekanntlich hat Zelter auch an dieser Kantate herumgedoktert und die Deklamation dieses Ariosos fast durchgehend geändert, ohne aber den musikalischen Charakter des Stücks zu beanstanden oder zu verändern.) Was hier gesagt ist, gilt von einer ganzen Reihe von Kantaten-Arien.

Es sei nur noch ein Beispiel anderer Art angeführt: die Arie "Bereite dich Zion" aus dem Weihnachtsoratorium. Die allgemeine Auffassung der Sängerinnen wie der Hörer ist, daß sie weich, schwärmerisch aufzufassen sei, ein echtes Erzeugnis pietistischer geistlicher Poesie. Das trifft wohl auf den Text zu; die Musik dazu stand aber ursprünglich in der "Wahl des Herkules", wo der Held die Verführung der Wollust abweist: "Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen, verworfene Wollust, ich kenne dich nicht"; der Ausdruck der Musik ist also nicht schmeichelnd, sondern abweisend, unwirsch, im Mittelteil der Arie werden im Baß die "Schlangen" gemalt, die Herkules fangen wollten, eine Vieldeutigkeit der Tonsprache, die schon im Zeitalter Haydns und Mozarts nicht mehr möglich gewesen wäre. Diese Vieldeutigkeit entspringt eben einer weitgehenden Autonomie der Musik.

Von einer Arie sich den Text wegzudenken und von der Musik allein auf den Gedankeninhalt des Textes zu schließen, das wird nur in einer kleinen Minderheit der Fälle gelingen, so in einigen Passions-Arien, im ersten Teil der Kreuzstab-Kantate, aber schon im dritten Satz dieser Kantate ("Endlich, endlich wird mein Joch wieder von mir weichen müssen") steht die virtuose Koloratur des Basses und der obligaten Oboe in einem recht schwachen, entfernten Zusammenhang mit dem Text; dieser Zusammenhang aber macht erst das Wesen der Kirchenmusik aus, nur durch ihn wird Musik zur Kirchenmusik. Busoni hat einmal gesagt, es gäbe überhaupt keine Kirchenmusik, es gäbe nur Musik, die in Kirchen gemacht werde. Das ist so verblüffend einfach wie wahr. Musik an sich ist weder kirchlich noch unkirchlich, sie wird zur Kirchenmusik erst durch ihre Verbindung mit ritualen Texten, ihrem Wesen nach aber ist sie autonom. Es macht die Größe Bachs aus, daß in seiner Musik sich diese Autonomie so rein und absolut ausdrückt wie bei keinem anderen neueren Komponisten; auch in den Sologesängen Bachs ist diese Autonomie zu finden, wenngleich große Gradunterschiede in Bezug auf Erfindung und Ausarbeitung unter ihnen bestehen. Da sie ihre Gesetze von der neapolitanischen Opern-Arie beziehen, und da sie mit der religiösen Grundidee des Textes oft nur schwach zusammenhängen, so konnten sie nur bei einer so großen Weitherzigkeit, wie sie das Barock aufbrachte, noch als Kirchenmusik gelten.

In einer Zeit religiöser Besinnung und Erneuerung wie der unseren wird man strengere Maßstäbe anlegen müssen, und dann hat diese Art von Arie im Gottesdienst nichts zu suchen. Das seither allgemein ausgeübte Verfahren, Bachs Kantaten konzertmäßig aufzuführen, ist daher äußerlich und innerlich das Richtige; nur möge man nicht behaupten, daß, wenn man vier zueinander passende Kantaten zusammenstellt, auf diese Weise ein "musikalischer Gottesdienst" entstehe, auch in diesem Falle treten wir aus der Sphäre des "Ästhetischen" nicht in die des Sakralen über.

Bachs Verdienst ist es, durch seine einzigartige Größe die beiden sich ausschließenden Welten Oper und Kirchenmusik zum letzten Mal zueinander gezwungen zu haben; nach seinem Tod wird der Bruch offenbar, und es ist nach diesem Zusammenbruch auf über hundert Jahre aus mit der evangelischen Kirchenmusik. Telemanns und Philipp Emanuel Bachs kirchenmusikalische Werke viele Hunderte der Zahl nach sind ihrer großen Mehrzahl nach nichts weiter als mit völliger innerer Gleichgültigkeit verfertigte Amtskompositionen für den sonntäglichen Kirchgang der gebildeten, aufklärerischen Hamburger Bürger, denen die weltliche Musik längst wichtiger geworden war als die kirchliche.

Die evangelische Kirchenmusik muß hundert Jahre später wieder ganz von unten anfangen mit der Bildung freiwilliger Kirchenchöre und mit einfachsten vierstimmigen Chorliedern, aber nun hat das süße, berauschende Gift der italienischen Oper seine Kraft verloren, und sie kann nun wieder aus der Quelle schöpfen. (Es wäre grotesk, sich vorzustellen, man würde in der evangelischen Kirchenmusik um 1900 etwa an Puccini anschließen, und doch ist so etwas mutatis mutandis um 1700 der Fall gewesen.) So ist zwar die Luft gereinigt, aber wieviel an religiöser Substanz ist inzwischen verloren gegangen?

Wir können nicht erwarten, daß auf dem ausgetrockneten Boden des 19. Jahrhunderts Wunderpflanzen erblühen sollen; erst eine Wiedererweckung der Liturgie kann wie ein warmer linder Frühlingsregen ihn aufnahmebereit für eine neue Kirchenmusik machen. Viele tüchtige Kräfte sind dabei, den Boden zu bestellen, und wenn nicht große politische Katastrophen die Arbeit überhaupt unmöglich machen, so werden wir vielleicht doch in nicht zu ferner Zeit Blüten sehen und dereinst Früchte ernten.

Quelle:
Universitas, Jahrgang 2, Heft 12, Dezember 1947, S. 1425 - 1434