1950 · Das Tempo bei Bach

Neue Musik -Zeitschrift

Der Begriff "Tempo" oder Zeitmaß setzt den Begriff der meßbaren Zeit voraus. Bekanntlich gibt es aber zweierlei Arten von Zeit: eine objektive, nach Stunden, Minuten und Sekunden meßbare, und eine subjektive; es gibt rasch verfliegende Stunden und Minuten und solche lähmender Langeweile, in denen der Zeiger nicht vorzurücken scheint. Im metronomisch erfaßbaren Zeitmaß scheint zunächst nur die objektive Zeit festgehalten zu sein, die subjektive ist aber verborgen darin mitenthalten. Darum sind Metronom-Zahlen, die der Komponist selbst in irgend einer Stimmung festsetzt, selten für ihn (und für uns) wirklich verbindlich (bezeichnende Beispiele dafür bei Beethoven und Brahms); ebenso ist es klar, daß das Lebensalter eine Rolle spielt (der alte Mann empfindet ein Tempo schon als lebhaft, das der junge noch als ruhig bezeichnen würde, - daher die in jeder Generation auftretende irrige Meinung der Älteren, die Tempi seien früher mäßiger gewesen!), ebenso haben die Temperamente ihr eigenes Zeitmaß, ja selbst die Zeitalter, wenn wir an das "Tempo ordinario" des Barock, an das "Allegro con brio" der Zeit Beethovens denken. Wir gäben wohl viel darum, wenn uns von Bachs Werken authentische Metronom-Angaben überkommen wären, aber wir müßten diese erst wieder in unser Zeitalter, in unser Lebensalter, in unser Temperament, ja in unsere momentane Stimmung übersetzen! Gewiß wären die objektiven Abweichungen nicht groß, aber schon ganz geringe metronomische Verschiebungen (1/4 = 116, 120, 126) können, wie jeder Musiker weiß, den Charakter eines Tonstücks einschneidend beeinflussen.

Bei der alten Musik, zu der als letzter Johann Sebastian Bach zu zählen ist, war es bekanntlich üblich, Musik für einen Spieler allein (Klavier, Orgel) überhaupt nicht zu bezeichnen. Die Abweichungen der Ausgaben untereinander und noch mehr von dem, was wahrscheinlich Bachs Wille gewesen ist, sind so groß, daß wir, um festen Boden zu gewinnen, die wenigen Anhaltspunkte, die uns Bach selber gibt, sorgfältig prüfen müssen. Wir kennen Bach aus vielen Einzelheiten seines Lebens als typischen Choleriker. Wenn uns der Nekrolog berichtet: "Im Dirigieren war er sehr akkurat, und im Zeitmaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher", so erkennen wir noch in diesen wenigen, aber charakteristischen Worten den großen Choleriker, den Willensmenschen, der das einmal angeschlagene Tempo ohne Schwanken durchhielt. Ich beziehe den Satz, "welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm", nur auf den Dirigenten, nicht auf den Klavier- und Orgelspieler Bach. Keinesfalls darf diese Stelle so aufgefaßt werden, als ob die seit Czerny übliche Verhetzung der Bachschen Klavierwerke dadurch ihre Rechtfertigung finden würde. Die unsinnig hohen Metronomisierungen Czernys und der meisten seiner Nachfolger haben ja fünfzig Jahre und länger Bachs Klavierwerke zu polyphonen Fingerübungen und Geläufigkeits-Rennen mißbrauchen helfen (daß schon die zahlreichen Verzierungen solche Tempi unmöglich machen, sei nur nebenher erwähnt).

Wir haben aber auch von Bach selbst allgemeine Tempo-Angaben, besonders in seiner Kammer- und Orchester-Musik, aus denen wir, wenn wir richtig verstehen, Schlüsse für die Ausführung der unbezeichneten Werke ziehen können. Suiten blieben grundsätzlich unbezeichnet, weil jeder wußte, wie eine Allemande, eine Sarabande, ein Menuett (*1), eine Gavotte zu nehmen war, auch in kontrapunktischer Musik wurden Tempo-Angaben meist als überflüssig gehalten, so daß unter allen Fugen Bachs nur bei einer einzigen das Zeitmaß angegeben ist: in der letzten Fuge von W.Kl. I ("Largo"). Lediglich die neuen, von Italien kommenden Formen der Sonate und des Konzerts erforderten auch im Zeitmaß eine genaue Festlegung des Charakters. Es ist daher sehr wohl zu unterscheiden, ob Bach den ersten Satz eines Konzertes mit Vivace oder Allegro bezeichnet; da viele, ja wohl die meisten Spieler, nicht wissen, ob die Tempo-Angaben in den Ausgaben, aus denen sie spielen, authentisch sind, so werden diese Unterschiede in der Regel nicht beachtet. Es sei also hier ausdrücklich festgestellt, daß alle Konzerte (Violin-, Klavier-Konzerte, Brandenburgische Konzerte, auch das Italienische Konzert für Klavier) Tempo-Bezeichnungen tragen, ebenso alle Kammersonaten (Violin-, Flöten-, Gamben-Sonaten); Bach gibt mit den meisten dieser Bezeichnungen nicht nur Angaben über das Zeitmaß, sondern auch - wenn auch nur in ganz allgemeiner Weise - über den Stimmungsgehalt des betreffenden Satzes. In den Kantaten hilft außerdem der Text, die Tempo-Bezeichnung richtig zu verstehen.

Von den verwandten Bezeichnungen Largo, Lento, Grave, Adagio kommt bei Bach Lento (Langsam) am seltensten vor; nur zweimal in Kantaten (71 und 123) und einmal im Mittelsatz der 6. Orgelsonate. Häufiger schreibt Bach Largo vor, worunter er, nach dem Sinn des Wortes ein "breites", weiträumiges, aber nicht ausgesprochen langsames Tempo versteht; das zeigen besonders Kant. 110 "Ehre sei Gott" (!) und 117 ("Ich will Dich all mein Leben lang"). Bezeichnend auch das "Largo ma non tanto" im Doppelkonzert (*2) d Moll = nicht schleppen; dagegen ist nicht klar, wie "Adagio overo Largo" im C-Dur-Konzert für 2 Klaviere zu verstehen ist. Auch das selten vorkommende "Grave" bedeutet mehr einen gewichtigen, schwer betonten Vortrag, als ein langsames Tempo (Kant. 21 "Das Lamm, das erwürget ist"). - Bachs Lieblingsbezeichnung ist Adagio (wörtlich "behutsam"); in den meisten Fällen (nicht immer) meint er damit sowohl ein herabgestimmtes Zeitmaß wie einen zart ausdrucksvollen Vortrag. Besonders in der Steigerung "Molto Adagio" oder "Adagio assai" (in Kantaten-Einleitungen, im Orgel-Choral "O Mensch, bewein' dein' Sünde groß") bedeutet es stets eine zarte, abgedämpfte Stimmung. Daß die mit Adagio bezeichneten Mittelsätze von Sonaten und Konzerten zugleich auch schwächer als die Ecksätze zu spielen sind, ist wohl selbstverständlich. "Cantabile, ma un poco Adagio" (6. Violinsonate, G Dur, 1. Fassung) heißt: Gesangvoll, aber doch zart; im 3. Satz der Violinsonate E Dur will die Vorschrift "Adagio, ma non tanto" zugleich auch vor einem zu weichlichen Vortrag warnen. Affettuoso (5. Brandenburgisches Konzert) bedeutet: mit zartem, aber leidenschaftlichem Vortrag.

Andante, eine bei Bach nicht seltene Vorschrift, ist, nicht wie bei Beethoven oder gar bei Schubert als eine Abart von Adagio, sondern als ein ruhiges Schreiten oder Gehen (also etwa 1/4 = 72 - 80) aufzufassen, ja in manchen Fällen ist es gleichbedeutend mit Allegro molto moderato (Flötensonate h Moll, Orgelsonate d Moll, erster Satz). Insbesondere sollen die Mittelsätze des Italienischen Konzerts und des Violinkonzerts a Moll, der Kanon in der Violinsonate A Dur ("Andante un poco") durch diese Vorschrift vor einem schleppenden, zerfließenden Tempo bewahrt werden.

Allegro, eigentlich "munter", ist bei Bach nicht gleichbedeutend mit Vivace, sondern heißt so viel wie innerlich belebt. Es hat vom Vivace etwa den gleichen Abstand wie das Andante vom Adagio und ist die Normalbezeichnung für die Eckteile dreisätziger Konzerte und Sonaten, deren innere Lebendigkeit bei steigenden Metronomzahlen eher ab- als zuzunehmen pflegt; die ihm entsprechende Dynamik ist ein leichtes, gesundes forte. Mehrfach warnt Bach durch Einschränkungen wie: "Allegro, ma non presto", "Allegro, ma non tanto", "Allegro moderato". "Un poco Allegro" u.a.m. vor äußerer Lebhaftigkeit. Dagegen versteht Bach unter Vivace stets ein lebhaft beschwingtes Tempo, mit dem am häufigsten als Taktart der 3/8-Takt verbunden ist (Gloria der h Moll-Messe). In der Kammermusik ist es der erste Satz des Doppelkonzerts d Moll (das meist zu gemessen widergegeben wird!), der Gambensonate g Moll, der zweiten, vierten und sechsten Orgelsonate, in der reinen Orgelmusik besonders das G Dur-Präludium (Pet. II. 2). "Vivace ed Allegro" (h Moll-Messe; Et expecto) heißt "lebhaft und freudig"; als "Allegro assai" ist der zweite Satz der Violinsonate A Dur (Zeitmaß also wohl Halbe = 126 = 132), das Finale des zweiten Brandenburgischen Konzerts und der beiden Violinkonzerte, ebenso des Konzerts in c Moll für zwei Klaviere, der Violinsonate C Dur und der Flötensonate E Dur in einem (für Bach!) besonders lebhaften, feurigen Tempo zu nehmen.

Die Bezeichnung "Presto" ist aber, wenn ich Bach recht verstehe, nicht als eine Steigerung von Vivace, sondern als ein ungehemmtes Dahin-Fließen zu verstehen, und manche Presto-Sätze Bachs machen daher auf den Hörer einen ruhigeren Eindruck als die mit Vivace bezeichneten: so ist die berühmte Arie aus Kantate 68 "Mein Gläubiges Herze", die mit Presto überschrieben ist (!), doch wohl nicht rascher als 1/4 = 92 zu nehmen. Ein weiteres, geradezu klassisches Beispiel eines "ruhigen" Prestos ist das Finale des Italienischen Konzerts, dessen anmutiger Fluß nicht mehr als 1/2 = 92 - 100 verträgt. Ähnlich ist es zu verstehen, wenn das Double der Courante (nicht diese selbst!) der h Moll-Partita für Violine allein mit "Presto" bezeichnet ist. "Très vitement" ist der Anfang der G Dur-Fantasie für Orgel (Wenn die Angabe authentisch ist).

Charakteristisch sind auch fehlende Tempo-Angaben; im ersten Satz des italienischen Konzerts, in der ersten Orgel-Sonate und sonst ist das Fehlen der Bezeichnung "Allegro" nicht aus Nachlässigkeit oder Zufall, sondern bedeutet: "Non Allegro, ma in Tempo ordinario", - das besonders von Händel oft eigens vorgeschriebene, zwischen Andante und Allegro stehende Grundzeitmaß des Barock.

Diese Anhaltspunkte nützen uns nichts, wenn nicht die Erkenntnis der richtigen Zählzeit dazu kommt. Unsere Taktvorzeichnungen geben uns dafür keine genügende Anhaltspunkte: Die Vorschrift 2/4 läßt z.B. offen, ob die Viertel, oder (etwa in einem Adagio) die Achtel, oder (in einem Presto) die Halben Zählzeiten sind; 4/4 kann auch 8/8, 3/4 auch 6/8 = 3 * 2/8 bedeuten usw. Ich habe, um auf die Wichtigkeit des Problems der Zählzeiten hinzuweisen, in meinem Buch über "die Klavierwerke Bachs" (Peters, 1950) als Beispiel die cis Moll-Sonate von Beethoven angeführt, deren erster Satz (Adagio sostenuto) trotz seines langsamen Tempos die Halben als Zählzeit hat, also etwa 1/2 = 42 (nicht 1/4 = 84), der letzte "Presto agitato" dagegen die Viertel (1/4 = 176, nicht 1/2 = 88)! Für den Ausdruck der Musik sind diese Unterschiede - bei metronomisch gleichem Tempo - entscheidend. Auch bei Bach ist in den Mittelsätzen des a Moll Violinkonzerts und des Italienischen Konzerts die Vorschrift Andante nur verständlich, wenn man sie auf die Achtel, nicht auf die Viertel bezieht, etwa 1/4 = 76, d.h. ruhig gehend (1/4 = 38 wäre Adagio assai). Auch das Zeichen für 4/4 bedeutet bei Bach noch nicht eindeutig den Allabreve-Takt (den er einige Male ausdrücklich mit Worten vorschreibt), sondern zuweilen so viel wie den a cappella-Stil der älteren Musik; in anderen Fällen steht es auch da, wo unzweifelhaft die Viertel Zählzeiten sind (Klavierkonzert d Moll, Orgelsonate Es Dur, Violinkonzert E Dur, je 1. Satz), häufiger ist aber der Fall, daß in einem C-Takt die Achtel Zählzeiten sind, so im Wohltemperierten Klavier I in der Fuge C Dur, dem Präludium d Moll, (wogegen im c Moll-Präludium wie in der h Moll-Fuge langsame Viertel als Zählzeiten anzunehmen sind). Im zweiten Teil sind in den Präludien fis Moll, g Moll, a Moll, die Achtel Zählzeiten, in der Kammermusik im ersten Satz der Flötensonate h Moll, im dritten Satz der Violinsonate A Dur, - diese Beispiele mögen genügen, und den Leser zum weiteren Nachdenken über diesen wichtigen, aber so oft übersehenen Punkt anzuregen!

Zum Schluß sei noch einmal gesagt: es gibt kein unfehlbar richtiges Zeitmaß, für Bach so wenig als für irgendeinen anderen Meister. Hätten wir von Bach selbst authentische Metronomisierungen, so wären diese an dem veränderten Zeitgefühl unserer Epoche ebenso wie an dem Lebensgefühl jedes einzelnen Spielers zu modifizieren. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, uns in das Zeitalter, in den Stil und das Temperament Bachs zurückzuversetzen; wir müssen zu Bach kommen, nicht er zu uns. Dann wird uns auch das Bachsche Zeitmaß von selber aufgehen, und die subjektiven Abweichungen davon, die nicht nur erlaubt sondern notwendig sind, werden nicht größer sein, als in der Natur, wo ja bei aller Ähnlichkeit innerhalb derselben Art doch niemals zwei gleiche Bildungen vorkommen.

(*1) Bei Quantz ist das Tempo des getanzten Menuetts mit 1/4 = 160 angegeben. Steglich ("Wege zu Bach", S. 58), der diese Stelle anführt, folgert daraus wohl zu Unrecht, daß die üblichen Metronomisierungen Bachscher Menuette (1/4 = 108 - 120) erheblich zu langsam seien, stellen doch Bachs Menuette in seinen Suiten mehr Charakterstücke als wirkliche Tanzsätze dar.

(*2) In Bachs Klavierübertragung dieses Konzerts heißt der Satz "Andante".

Quelle:
Neue Musik -Zeitschrift, 1950, S. 125 - 127
Schott Music, Mainz