1955 · Bedeutung Biberachs

für die oberschwäbische Musikgeschichte

(Aus einem Vortrag anläßlich der Tagung des Schwäbischen Heimatbundes und des Verbandes Württ. Geschichts- und Altertumsvereine)

Das mir gestellte Thema möchte ich nicht so auffassen, daß ich versuchen würde, zur lokalen Musikgeschichte Biberachs möglichst viel Material beizubringen, sondern ich möchte die oberschwäbische Musik im Rahmen der deutschen Musikgeschichte, besonders des 18. Jahrhunderts, und diese aus der Kulturgeschichte der Zeit zu verstehen versuchen.

Goethe hat einmal gesagt, man solle am Sternenhimmel nicht nur die Sterne ersten Ranges bewundern, erst die vielen kleineren machen zusammen mit den großen die ganze Pracht und den Reichtum des gestirnten Himmels aus. Das trifft besonders auf die Musik zu: viel zu lange hat der Glanz der großen Meister alle Bewunderung auf sich gezogen; man war geneigt, diese Meister auch in ihren schwächeren Werken zu bewundern, während man den kleineren Meistern oft ihre besten Werke nicht geglaubt hat. Aber wo sind denn die großen Meister der Musik in Schwaben? "Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, das ist bei uns die Regel, das fällt uns gar nicht auf", - das gilt gewiß nicht von der Musik.

Ich habe vor mehr als dreißig Jahren in der Zeitschrift "Der Schwäbische Bund" die Frage gestellt: "Gibt es eine schwäbische Musik?" und habe sie im wesentlichen verneint, ohne rechte Gründe dafür anführen zu können. Heute glaube ich, daß der Verlauf der Reformation, der bei uns im Süden mit der Zwinglischen Richtung, die bekanntlich völlig kunstfeindlich eingestellt war, sympathisierte, der Grund war, warum in so von Haus aus musikalisch veranlagten Ländern wie in Württemberg, der Schweiz, in Baden, im Elsaß, der Pfalz kein von der Kirche befruchtetes Musikleben entstehen konnte. Und die Höfe? Zu der bedenkenlosen Verschwendungssucht des Herzogs Karl Eugen in seiner Sünden Maienblüte gehörte auch der Bau und Betrieb großer Opernhäuser in Ludwigsburg und auf der Solitude (die schon nach wenigen Jahrzehnten wieder abgerissen wurden), an die erste italienische Kräfte wie Jomelli und Nardini verpflichtet waren. Aber diese kostspielige Unterhaltung der Hofgesellschaft schlug keine Wurzeln in der Bürgerschaft, bei uns so wenig wie anderswo, sie rief vielmehr Gegenkräfte wach: aus einer Abwehr gegen die überfeinerte Genußwelt des Rokoko entstand in Frankreich der Stil eines strengen Klassizismus.

Aus vielen Quellen fließen die Ströme, die das neue Zeitalter heraufführen halfen, und auch die Musik wird davon ergriffen: der fast plötzliche Verfall aller großen barocken, repräsentativen Formen der Musik, für den man das Todesjahr Bachs, 1750, als Stichjahr zu nehmen pflegt, der aber schon gegen 1730 einsetzt und gegen 1770 abklingt, hat tiefere Ursachen als nur musikalische und tiefere Bedeutung als die einer nur musikalischen Stilwende. Es ist eine Absage an die großen Traditionsmächte der Kirche und des Adels; die Musik wird bescheidener, bürgerlicher, und in wie kurzer Zeit!

Zwischen den Alterwerken von Bach und den ersten Symphonien von Haydn liegen kaum zehn Jahre, und in dieser Zeit verlagert sich der Schwerpunkt der deutschen Musik vom protestantischen Norden nach dem katholischen Süden und nach Osterreich. In Wien als einem Kulturzentrum lebten und wurden von ihm geprägt die großen Meister, von Gluck über Haydn, Mozart, Beethoven bis zu Schubert; die vorbereitende Mannheimer Schule hat Meister zweiten Ranges aufzuweisen, aber wie steht es damit bei uns? Wie steril ist die Musikgeschichte Stuttgarts abseits der höfischen Musikpflege! Erst mit der Frühromantik (Zumsteeg) und dem Verschwinden des Absolutismus regt sich da neues Leben.

In den Reichsstädten von Ulm bis Kempten lagen die Verhältnisse günstiger; jede von ihnen hatte ihr eigenständiges Kulturleben, wenn auch vielleicht keine so vielseitig wie gerade Biberach. Dieses eigenständige Leben ist ja heute bekannt und nach Gebühr gewürdigt mit Ausnahme der Musik. Erst seit wenigen Jahrzehnten werden die Vorarbeiten geleistet, die zu der Herausgabe von Denkmälern der Tonkunst in Württemberg führen können.

Die lateinischen Chöre des in Biberach geborenen Thomas Mezler zeigen noch die letzte Ausstrahlung eines an italienischer Musik geschulten Humanismus, wie wir ihn auch in den Chorliedern von Hans Leo Hasler und anderen finden. Das im 17. Jahrhundert gegründete Alumnat hatte in den kleinen Verhältnissen von Biberach dieselbe Aufgabe wie die großen, berühmten Kirchenschulen Norddeutschlands (Thomasschule in Leipzig, Kreuzschule in Dresden); die in Biberach in einzigartiger Weise durchgeführte konfessionelle Parität kam der Musik, die immer eine tolerante Kunst gewesen ist, besonders zugute. Aber fehlen da nicht zu sehr die fruchtbaren Spannungen, ohne die kein Kunstwerk entstehen kann? Goethe hat sich darüber einmal zu Eckermann in drastischer Weise ausgesprochen. Er sagte über den französischen Dichter Béranger: "Er ist der Sohn armer Eltern, hat nie eine gelehrte Schule besucht, und doch sind seine Lieder voll Grazie, voll Geist Denken Sie aber diesen selben Béranger, anstatt in Paris geboren, als den Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar" (oder sagen wir: Biberach) "und lassen Sie ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen, und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum in einem solchen Boden wohl würde getragen haben?" Es ist schon so, daß alle großen Musiker auch große Verhältnisse nötig gehabt haben: Bach blieb nicht in Köthen, sondern ging nach Leipzig, Mozart wagte den Sprung von Salzburg nach Wien ins Ungewisse, Händels Opern und Oratorien sind nur in London denkbar. Das alles fehlt in Oberschwaben. Die Landschaft stimmt zur Harmonie, die Orgeln in den prächtigen Kirchen klingen milder als die in Norddeutschland, und auch die Kompositionen, die dort entstehen, haben keine weltweite Wirkung. Sie warten gelassen, bis man zu ihnen kommt. Diese Welt aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt zu haben, ist vor allem das Verdienst zweier Männer: des Organisten und Architekten Walter Supper, der uns wieder gelehrt hat, die Schönheiten der oberschwäbischen Spätbarockorgeln zu empfinden (wenn auch für sie keine große Literatur geschaffen wurde, da zu dieser Zeit die Orgelkunst bereits in ihre Verfallzeit eingetreten war), und Willi Siegele, der unermüdlich und erfolgreich die Musik dieser Zeit aus Bibliotheken und Archiven sammelte und wieder zu klingendem Leben erweckte.

Diese Musik der Klöster und die bürgerliche Musik der Reichsstädte ist von Männern getragen worden, die über einen lokalen Ruhm, ja oft über eine lokale Anerkennung nicht hinausgekommen sind; es wäre falsch, sie heute auf ein Postament hinaufzuloben, auf dem sie nie stehen wollten, aber sie gehören zu den Sternen, die man auch kennen muß, um den gestirnten Himmel in seiner ganzen Schönheit zu verstehen.

Einer ragt aber doch weit aus der ganzen Schar heraus: Justin Heinrich Knecht. Er ist in Biberach schon mehrmals gewürdigt worden, aber man kennt ihn immer noch zu wenig, denn einen Komponisten kennen, heißt, ihn aufführen. Sein Leben spielte sich fast ganz in seiner Vaterstadt Biberach ab; als er mit 55 Jahren eine Berufung als Musikdirektor an das Stuttgarter Hoftheater erhielt, war es für ihn zu spät, einem großstädtischen Berufsorchester vorstehen zu können, und er kehrte resigniert in die Heimat zurück. Umso erstaunlicher ist das Lebenswerk, das er hinterlassen hat, sowohl seiner Vielseitigkeit nach wie nach seinem Gewicht. Freilich: seine Opern teilen das Schicksal, vergessen worden zu sein, mit fast allen Opern des Jahrhunderts, ausgenommen Gluck und Mozart; aber seine Versuche im Singspiel, der deutschen Abart der italienischen Opera buffa, könnten sehr wohl auch heute bestehen, wenn die Lustspiele, für die diese Musik geschrieben wurde, wieder belebt werden könnten. Von den drei großen Wiener Meistern hat sich Knecht besonders von Haydn angezogen gefühlt, seine Klaviersonaten zeigen (besonders in ihren Schlußsätzen im 2/4 Takt) deutlich die Anlehnung an Haydn; weniger nah kam ihm Mozart und gar nicht offenbar Beethoven, von dem auch im 19. Jahrhundert im Notenverzeichnis des Musikvereins kein Stück aufgeführt ist.

Umso merkwürdiger sind gewisse Parallelen zu Beethoven, wobei Knecht als der Ältere nicht der Nachahmende gewesen sein kann. Sein "Tongemälde der Natur" erschien 1784 in demselben Verlag wie die drei Jugendsonaten von Beethoven, der damals 14 Jahre alt war. Vielleicht hat Beethoven von der Knechtschen Komposition damals Kenntnis gehabt; ob er sich zwanzig Jahre später in Wien daran erinnert hat, kann man natürlich nicht beweisen, aber auffallend ist, daß der "Sturm" bei Knecht mit ähnlich weitausholenden Achteln der Violinen dargestellt wird wie im vierten Satz der Beethovenschen Pastoralsymphonie. Ebenso ist der Wachtelschlag im zweiten Satz der G-dur-Sonate von Knecht in Rhythmus und Tonhöhe (auf d) genau gleich bei Knecht und Beethoven. Noch merkwürdiger ist, daß das berühmte Quartett aus "Fidelio", "Mir ist so wunderbar", ein vierfacher Kanon, in dem vier Personen mit derselben Melodie vier verschiedene Empfindungen ausdrücken, sich (natürlich mit anderem Text und anderer Melodie) auch in einer Oper von Knecht findet, die etwa ein Jahr nach der Erstaufführung des "Fidelio" (die bekanntlich ein völliger Mißerfolg war) komponiert wurde. Hier ist noch vieles ungeklärt, was noch einer eingehenderen Untersuchung wert wäre. Knecht sagt auf dem Titel seiner Symphonie: "gedichtet" von , genau wie über zwanzig Jahre später Beethoven die Ouvertüre zu "Coriolan" überschrieb mit "gedichtet von L. v. Beethoven!" Hier scheinen noch unerforschte Zusammenhänge zu bestehen, die vielleicht auf Knecht ein ganz neues Licht werfen können.

Auch das Schicksal der zweiten großen Programmsymphonie Knechts, für Orgel, ist merkwürdig: "Die durch ein Donnerwetter unterbrochene Hirtenwonne" wurde ihm alsbald von Abbé Vogler, dem sensationellsten Orgelvirtuosen seiner Zeit, nachgespielt und kam in seinen oft von Tausenden besuchten Orgelkonzerten zum Vortrag, gelangte so in die Schweiz, wo "das Gewitter" in Fremdenorten, wie Luzern, Bern, Interlaken u. a. ein Erfolgstück für die Organisten war, die dabei ihre große Orgel mit allen ihren Registern vorführen konnten, an Knecht dachte niemand mehr. Oder: wer außer Knecht hat es unternommen, Teile der "Messiade" von Klopstock zu komponieren, was selbst Beethoven mit den Worten ablehnte: "Klopstock, immer erhaben, immer Des-dur!"

Die ganze Enge in der Knecht gelebt hat, wird deutlich, wenn man sein Verhältnis zu Wieland mit dem von Zelter zu Goethe vergleicht: Wieland schreibt Knecht von Weimar aus ein paar freundliche, vertröstende Briefe, der Briefwechsel Zelter Goethe füllt drei große Bände und kann uns heute noch erquicken. Aber freilich, Zelter lebte wie Béranger in Paris in einer Großstadt, er war führend im Berliner Musikleben; gleichwohl überragt er rein als Komponist seinen unberühmten schwäbischen Kollegen nur um weniges! Wie hätten Knechts Anschauungen über das Wesen der Musik den Beifall Goethes gefunden, der gesagt hat: "Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde gemäß, und hier hat sie die größte Wirkung aufs Leben; die profane sollte durchaus heiter sein." Eine Vermischung beider Stile lehnte Goethe strikt ab. Ganz ähnlich hat sich Knecht geäußert: "Den Kirchenstil anlangend ist eine edle Einfalt, die Haupteigenschaft desselben. Alle tänzelnden Bewegungen, die das Charakteristische des komischen Stils ausmachen, müssen von der Kirchenmusik weit entfernt sein. Der Komponist muß die heiligen Bewegungen, die er in seine Musik legen will, in sich selbst fühlen. Er muß Christ und Künstler in einer Person sein." Wie einfach und wie wahr. Und doch war die Kirchenmusik zu Knechts Zeit, besonders die katholische, davon weit entfernt. Ein zorniger Brief des Fürstabts Gerbert aus St. Blasien an den Abt von Ochsenhausen führt bittere Klage über den leichtfertigen Stil der Kirchenmusik (Willi Siegele hat ihn entdeckt). Wie genau hat aber Knecht diese Grenze gezogen.

Noch erstaunlicher ist folgendes: Im Jahre 1804 ließ der Schweizer Verleger Nägeli einen Aufruf ergehen, die unvollendet gebliebene letzte Tripelfuge aus Bachs Werk, "Die Kunst der Fuge", über dessen Vollendung er starb, fertig zu komponieren. Knecht unterzog sich dieser Aufgabe; seine Lösung konnte aber nicht gedruckt werden, da, wie Nägeli schreibt, das allgemeine Interesse an solcher Kunst zur gering sei. Leider ist auch das Manuskript verschollen; das Werk aber, dem Knecht es unternahm, die Krone aufzusetzen, blieb noch über hundert Jahre fast unbeachtet, und erst unsere Generation hat es wieder für sich entdeckt. Welch ein Vorstoß damals in noch unerforschtes Gebiet! Auch, daß Knecht die erste Orgelschule schrieb, zeigt ihn als Pionier; da aber um 1800 die Orgelkunst ihren tiefsten Stand erreicht hatte, so wirken die von ihm komponierten Beispiele mehr wie Gegenbeispiele, und auch hier wurde ihm von einem Erfolgreicheren der Ruhm streitig gemacht, von Rinck, dessen zeitlich nach Knechts verfaßte Schule den meisten des 19. Jahrhunderts als Vorbild diente. Am wenigsten befriedigt uns Knecht in seiner Harmonielehre, mit seiner übergenauen Charakterisierung aller möglichen Vier- und Fünfklänge.

Nur auf einem Gebiet ist es Knecht beschieden gewesen, auf die Nachwelt zu kommen: als Schöpfer von Choralmelodien für den evangelischen Gottesdienst. Das scheint wenig, ist aber viel. Man halte die oft verzopften, süßlichen Texte, Melodien und Harmonisierungen des berühmtesten Gesangbuchs des 18. Jahrhunderts, des von Freylinghausen (Halle), gegen die im besten Sinne volkstümlichen Melodien Knechts, so wird in vielen Fällen der Vergleich zu Gunsten von Knecht ausfallen. Wieviele Tausende haben in den letzten anderthalb Jahrhunderten "Wie groß ist des Allmächtigen Güte" mit der schwungvollen Melodie von Knecht gesungen, wieviele württembergische Konfirmanden haben an ihrer Konfirmation "Stärke uns Mittler, Dein sind wir" mit Andacht und Ergriffenheit gebetet! Es wäre schade, wenn die heute herrschende, streng historisierende Richtung der evangelischen Kirchenmusik ihr Anathema über diese Melodien aufrecht erhalten würde. Verlieren wir damit nicht die menschliche Mitte zwischen den alten, unsterblichen Chorälen und der neuesten Kirchenmusik?

Ich muß es mir versagen, hier auf Zeitgenossen und Nachfolger Knechts in Biberach näher einzugeben; es waren verdienstvolle Männer, vor allem August Löhle, die gezeigt haben, daß auch in einer Epoche künstlerischer Sterilität, wie sie das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der kirchlichen Gebrauchsmusik darstellt, noch gute und achtbare Leistungen möglich waren. Neben Löhle seien noch die Namen von Kaim, Braun und Buttschardt genannt. Sie hier zu würdigen, würde den Raum dieses Beitrags weit überschreiten. Ich wollte vor allem an dem Beispiel von Justin Heinrich Knecht die Vielseitigkeit des Biberacher Musiklebens aufzeigen, die sich in seinen Werken spiegelt, und die getragen wird von dem Geist oberschwäbischer Kultur, in der Landschaft, Christentum, bürgerliches und klösterliches Leben, Baukunst, bildende Kunst, Dichtung und nicht zuletzt auch Musik in einen einzigen vollen, harmonischen Akkord zusammenfließen.


Quelle:
Zeit und Heimat
Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur von Stadt und Kreis Biberach
1. September 1955 | Beilage der "Schwäbischen Zeitung" Ausgabe Biberach | Nr. 5 / 1. Jahrgang