1959 · Händels europäische Sendung

Stuttgarter Nachrichten

Man muß ihn zuerst von der Verklammerung mit Bach lösen, wenn man sein Bild richtig sehen will; Bach und Händel - das war dem 19. Jahrhundert so selbstverständlich wie Schiller und Goethe, aber noch größer als da sind die Verschiedenheiten der beiden großen Musiker, wenngleich sie im selben Jahr und in derselben Landschaft geboren sind (wenn ein Vergleich mit anderen großen Künstlern überhaupt statthaft ist, so wäre es wohl möglich, Bach mit Rembrandt, Händel mit Rubens in Parallele zu setzen). Dieses "Bach und Händel" trägt aber die Schuld, daß man Händel so lange Zeit von einem falschen Standpunkt aus gesehen hat: als den großen protestantischen Kirchenmusiker, der den "Messias" geschaffen hatte, wie Bach der Schöpfer der Matthäuspassion war. Aber Bach ist trotz aller Einflüsse, die auf ihn gewirkt haben, immer Deutscher, genauer gesagt: mitteldeutscher Protestant geblieben, er hat seine engere Heimat in seinem ganzen Leben nie verlassen. Händel dagegen gehört drei Nationen an: Deutschland hat ihn geboren, hat ihm sein unverlierbares Erbe mitgegeben, in Italien hat er die Weltsprache der Musik sich angeeignet, in England hat er gewirkt, gekämpft, gesiegt.

Bachs ungeheurer Wille, mit dem er sich im Leben an den ihm gesteckten engen Grenzen beständig wundstößt, konzentriert sich völlig auf sein Werk, auf sein künstlerisches Schaffen; Händels nicht geringere, nicht intensive, sondern extensive Energie ist von Anfang an nicht auf sein Werk, sondern auf ein Leben großen Stils gerichtet, das ihn auf Höhen und in Tiefen führt, die dem Organisten und Kantor Bach kaum vorstellbar gewesen wären, ein Leben, das ihn in Kämpfe verwickelt, gegen die Bachs Streitigkeiten mit dem Magistrat und Rektorat in Leipzig uns nicht anders als wie ein Frosch-Mäuse-Krieg vorkommen können. Bach ist ohne das Luthertum seiner Zeit nicht zu verstehen, Händel dagegen ist in seiner Stellung zur Religion von allen drei großen christlichen Konfessionen beeinflußt worden: Er ist als Lutheraner geboren und gestorben, er hat in Italien vertrauten Verkehr mit hochgestellten Katholiken gepflegt und in England die Strenge und Schärfe des Calvinismus zu spüren bekommen. Aus alledem entstand bei ihm eine Art von religiösem Weltbürgertum - "the great pagan", der große Heide, nannten ihn seine englischen Freunde; unter der Maske einer scheinbaren Indifferenz verbarg sich aber eine tiefe Gläubigkeit, und sein Charakter, im Strom der Welt gebildet, behielt seine Reinheit und Lauterkeit in allen Wechselfällen des Lebens. Wie hoch hat ihn das Glücksrad erhoben, dann gestürzt und wieder erhoben! Man muß schon an das phantastische Leben Richard Wagners denken, wenn man in der Musikgeschichte etwas Vergleichbares heranziehen will.

Die Lockung der Oper

Händel wächst in wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen in Halle als Sohn eines - wie wir heute sagen würden - Medizinalrats auf und versucht sich frühzeitig in der Komposition, ohne aber, wie Bach, schon Anzeichen von Genie zu zeigen. Er hätte aber wohl leicht in den deutschen Landen eine gute Stellung als Kirchen- und Schulmusiker oder als Kapellmeister bekommen können, allein ihn trieb ganz anderes Verlangen; Es zog ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zur Oper, und er geht als Volontär nach Hamburg, wo damals unter dem begabten, aber liederlichen Reinhold Keiser die deutsche Oper ihre erste bescheidene Blüte erlebte. Er bleibt nicht lange, denn die Oper ist im Niedergang begriffen, die rohen und geschmacklosen Texte, der anstößige Lebenswandel der Truppe, der noch ganz ungeschulte Geschmack des Publikums wirken zusammen; es mußte erst ein Lessing kommen, um diesen Augiasstall auszufegen. So wendet sich Händel nach Italien, nach dem Gelobten Land der Oper, aber nicht wie andere Musiker als Stipendiat, sondern mit wohlgefüllter Börse auf eigene Kosten, nicht anders als so viele reiche Bürgerliche und Adlige, die ihre "Kavalierstour" nach Italien machten. Der frische, gut aussehende Jüngling mit feinen Manieren und seiner sofort erkannten außerordentlichen Begabung wird mit offenen Armen aufgenommen. Er erlangt Zutritt in die berühmten Akademien, freien Vereinigungen hochgestellter Persönlichkeiten mit bedeutenden Vertretern der Wissenschaft und Kunst gleichviel welchen Vaterlands, "wo die bukolische Phantasie des zauberhaft verklingenden Barocks, im warmen Zwielicht duftender Zypressen- und Lorbeerhaine, zwischen Ruinen, Statuen und Fontänen ihren holdesten Traum ersann und erlebte: Verse, Klänge, Schäferspiele und nächtliche Feste, Improvisationen. "Blendende Maskeraden des Geistes" (Paumgartner). Als Mozart ein halbes Jahrhundert später nach Italien kam, war davon nur noch ein blasser Schein übrig, und wieder ein paar Jahrzehnte später setzten Bonapartes Grenadiere dem Land ihre Kommißstiefel in den Nacken.

Italien war damals noch ein Paradies für Künstler und Lebensgenießer. Kann man es den Herzögen von Hannover verdenken, wenn sie Jahr für Jahr ihre Regierungseinkünfte in Venedig verzehrten? Ohne diese Brücke, die der gewandte und vielseitige Steffani schlug, wäre Händel vielleicht nie nach England gekommen, denn Herzog Georg von Hannover hatte Anwartschaft auf den englischen Königsthron, den er 1714 bestieg. Nun umfing die Weltstadt London den jungen Händel, und in ihr war ein anderer Geist als der humane, der ihn im sonnigen Italien getragen hatte: Er sah eine große Nation, die sich eben anschickte, die Weltherrschaft zu ergreifen, nachdem die puritanische Revolution Cromwells ein Halbjahrhundert vorher jeden unbefangenen, heiteren Lebens- und Kunstgenuß ertötet hatte, er sah schroffste Gegensätze von reich und arm; auf der einen Seite eine lasterhafte Gesellschaft, die in der Kunst, und besonders in der Oper, nur eine Form des sinnlichen Vergnügens sah, auf der anderen Seite ein strenggläubiges, intellektuell hochstehendes Bürgertum, das diese Vergnügungen verachtete.

Zwischen Hof und Bürgertum

Zwischen diesen Gegensätzen mußte sich Händel seinen Weg bahnen. Er ist Günstling des Hofs, und da der landfremde Herrscher, der nicht einmal die Sprache des Volkes erlernte, das er regieren sollte, unbeliebt war, so hat auch Händel eine starke Partei gegen sich. Acht Jahre ist er mit zwei Italienern zusammen Direktor der italienischen Oper, einer Aktiengesellschaft, bei der die Stars eine weit größere Rolle spielten als die Komponisten. Im Jahr 1728 erscheint eine "Bettleroper", in der die Unnatur der großen Oper verspottet und die vornehme Gesellschaft durch den Kakao gezogen wird. Lächerlichkeit tötet - die italienische Oper muß (wenigstens vorübergehend) ihre Pforten schließen. Streit und Eifersüchteleien führen dazu, daß zwei Opern nebeneinander bestehen; die, der sich Händel verschrieben hat, macht Konkurs, er verliert Vermögen und Gesundheit.

Aber der Zusammenbruch "ward ihm zum Heil, es riß ihn nach oben": Er findet den Weg zum Oratorium. Freilich hat er erst nach langen Kämpfen Erfolg: Eines seiner Oratorien wird als Verherrlichung Englands gedeutet, das eben das aufständische Schottland niedergeworfen hatte, und diese Beziehung macht ihn populär. Wichtiger ist, daß er nun von der künstlich konstruierten, mit Intrigen überladenen Opera Seria den Weg zu den großen Menschheitsstoffen des Alten Testaments und der römischen Geschichte findet. Nun komponiert er allen verständlich, nach Texten in englischer Sprache, und seine Musik wird von allen verstanden. Der "Messias", 1742 für Dublin geschrieben und dort in kleiner Besetzung uraufgeführt, wird schon zu seinen Lebzeiten als sein großartigstes, alles andere überragende Werk betrachtet; es wird zugunsten des Spitals, in dem die Waisen ertrunkener Seeleute aufgezogen werden, in immer größerer, festlicher Besetzung aufgeführt. Zur Feier des hundertsten Geburtstags von Händel wird in der Westminster-Abtei, wo Händel als englischer Nationalheros begraben liegt und ein Denkmal erhalten hat, der "Messias" mit über tausend Mitwirkenden zur Aufführung gebracht. Beim Halleluja aus dem "Messias" erhob sich damals der ganze Hof, und so erhebt sich noch heute in den angelsächsischen Ländern die gesamte Hörerschaft - nicht aus Bewunderung für die Musik, sondern aus Ehrfurcht vor dem, was die Musik ausdrückt. Oder denken wir an die Arie "Ich weiß, daß mein Erlöser lebet". Nie und nimmer hätte Bach so etwas schreiben können. Bei ihm wäre es zu einer tiefsinnigen Auslegung der letzten Dinge gekommen, er hätte über dieses Thema mit der ganzen Tiefe seiner christlichen und musikalischen Persönlichkeit philosophiert, ein Italiener hätte zu diesem Text eine Koloraturarie gemacht, wie Pergolesi in seinem Stabat mater; Händel schreibt eine Musik, die jedes Kind verstehen kann, so einfach ist sie, und eine, die außer ihm niemand schreiben könnte, so edel ist sie.

Was Händel moralisch für das England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutet hat, läßt sich gar nicht ausdenken. Es ist vielleicht nicht übertrieben, wenn man sagt, daß John Wesley und er zusammen das Verdienst für sich in Anspruch nehmen dürfen, England eine Revolution erspart zu haben, wie sie 1789 in Frankreich ausbrach, wo der Hof sittlich nicht viel tiefer stand als der in England. Aber England war eben schon zu Händels Zeiten eine Nation; erst als nach den Befreiungskriegen auch Deutschland sich als eine Nation fühlte (wenn auch zunächst nur fühlte), da verstand es auch die Sprache Händels, und der "Messias" war in diesen Jahrzehnten neben Haydns "Schöpfung" und "Jahreszeiten" das meistgesungene Oratorium. Aber dann kam die Wiedererweckung Bachs und drängte Händel in den Hintergrund. Man verglich die beiden und zog Bach vor. Verlangt aber nicht Händel eine völlig andere Einstellung der Sänger, Spieler und Hörer als Bach?

Was Händel vom Interpreten verlangt

Wo Bach in die Tiefe gräbt, da dehnt sich Händel in die Weite. Es ist wahr, er erreicht nirgends die Tiefe Bachs (er erstrebt sie gar nicht), er ist oft sorglos, ja nachlässig im Detail, er malt al fresco, während Bach seine Radierungen bis auf den letzten Strich mit der Nadel ausarbeitet; seine Musik kommt den Chören, die ihn einstudieren, leicht, ja allzu leicht vor, aber, während bei Bach schon die Hälfte geschafft ist, wenn die Noten sitzen, fehlt Händels Musik dann immer noch das Entscheidende: Der Dirigent muß ihr den Atem einhauchen, und schon ein geringes Schleppen oder Eilen kann den Charakter der Musik verzerren. Und noch etwas steht dem Verständnis der Händelschen Oratorien heute im Wege: Zu Händels Zeiten war die Bibel, besonders das Alte Testament, in England ein Volksbuch, von dem jeder jede Begebenheit kannte und sich freute, sie in den Oratorien festlich und groß dargestellt zu sehen, aber welcher Städter weiß heute noch etwas von Deborah, Belsazar, Josua, Jephta? Stuttgart hat das Verdienst mit der szenischen, halbdramatischen Darstellung von Jephta ein Beispiel gegeben zu haben, wie man Händels Oratorien heute aufführen soll: nicht im Konzertsaal, wo sie zu nüchtern wirken, nicht in der Kirche, wo sie nicht hingehören, sondern so, wie man sich ein griechisches Drama vorstellt, kultisch, feierlich, gemessen, aber der Phantasie, die sich die Handlung ausmalen möchte, Raum gebend. Ich gestehe, daß es mir immer schwer wird, wenn ich mir unter einer Dame im schwarzen Abendkleid die Königin von Saba, unter einem Herrn im Frack oder schwarzen Anzug den König Salomo vorstellen soll. (Freilich: Auch hier nimmt der "Messias" eine Ausnahmestellung ein, er ist das einzige Oratorium Händels, das ebenso in die Kirche gehört wie die Passionen und Oratorien Bachs.)

Und die Opern? Ich bin skeptisch, ob man sie retten kann, das heißt, ob es gelingt, nur um der Arien willen (Händels Opern bestehen ja nur aus Rezitativen und Arien) eine Gattung wiederzubeleben, die schon damals von der Mehrzahl aller vernünftigen Leute als abgeschmackt und unwahr abgelehnt worden ist. Was die Oper damals für die oberen Vierhundert war, das bedeutet heute das Kino für die große Masse: Sinnenreiz und Sensation. Die Helden der Opern Händels und seiner Zeit haben keine andere Aufgabe, als sich zu verlieben in eine, die sie nicht liebt, die aber ihrerseits wieder von jemand geliebt wird, der sie nicht liebt; der junge Page am Hofe von Xerxes ist gar keine Junge, sondern ein Mädchen, das in Xerxes verliebt ist, in die aber als einen vermeintlichen hübschen Jungen wiederum das Mädchen verliebt ist, das Xerxes liebt, während die Schwester seines Feldherrn ihrerseits wieder ... usw. - ja, soll man das ernst nehmen? Ist das besser als eine Kinohandlung von heute? Nun war ja das Publikum damals anspruchsvoll; man fragt sich also, was es denn hören wollte. Die Antwort ist: große Primadonnen und Kastraten, für die der Komponist, der oft auf den Theaterzetteln nicht einmal genannt wurde, die für sie passende Musik herzustellen hatte, wofür zahlreiche erprobte Schablonen zur Verfügung standen. Oper im Niedergang: Kurz darauf kam Gluck und erhob seine Stimme gegen die eingerissenen Mißstände, dann kam Mozart, und aus Marionetten wurden Menschen. Aber für sich betrachtet, steckt auch in den italienischen Opern-Arien Händels eine Fülle großartiger Musik. Jede will irgendeine Seelenhaltung darstellen; aufkeimende Liebe, edelmütigen Verzicht, Ruhmbegier, Kampfesmut, Schmerz, Trauer, Resignation - die ganze Skala des Menschenherzens. Damals hatte die italienische Oper europäische Geltung und praktisch die Alleinherrschaft auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit - nur Paris und Versailles gingen andere Wege -, aber Händels völkerverbindende, wahrhaft europäische Sendung ist nicht in diesen zeitgebundenen Produkten beschlossen, sondern in der Universalität seiner Musik.

Die imaginäre europäische Gemeinde

Schumann hat einmal gesagt, daß man italienische Musik eigentlich nur unter italienischem Himmel wirklich verstehen könne, während deutsche Musik unter jedem Himmel bestehe; vielleicht wird aber Bach doch in seinem Vaterland mehr geliebt und verstanden als anderswo. Händel gehört Europa. Die Engländer betrachten heute nicht mehr ihn, sondern Purcell als ihren Nationalheros in der Musik; daß er heute schon Deutschland gehöre, wäre zu viel gesagt - man feiert ihn wohl, ohne ihn ganz zu begreifen, weil man ihn viel zuwenig kennt -; in Italien vollends gilt Händel nicht viel mehr als einer der vielen ausländischen Musiker, die kamen, um zu lernen, und seine italienischen Arien sind ja auch in der Tat nicht italienisch, sondern kosmopolitisch - der Italiener vermißt die Geschmeidigkeit in ihnen -, so wartet Händel auf ein Europa, das sich als Einheit fühlt, und dann auch die großartige Einheit deutschen, italienischen und englischen Wesens in Händels Musik begreifen und lieben kann, die vom Nationalitätenstandpunkt aus allein nicht erfaßt werden kann. Wenn Gluck die nationalen Stilunterschiede in der Musik zugunsten eines allgemeinen, eines Weltstils beseitigt haben wollte - Händel hatte das vor ihm verwirklicht. Er starb am Karfreitag, dem 14. April 1759, 69 Jahre alt, erblindet, reich, selbst nach englischen Begriffen, hochberühmt, und sein Leben wäre wie Romain Rolland von ihm gesagt hat, wert, im Plutarch zu stehen.

Quelle:
Stuttgarter Nachrichten, 11.4.1959