1960 · Chopin - Stil und Persönlichkeit

Musica

Als der zwanzigjährige Chopin, der als Komponist und Virtuose schon mehr als eine bloße Lokalgröße geworden war, im März 1830 in Warschau seine beiden Abschiedskonzerte gab, ehe er seine Heimat für immer verließ, wurde er in den Zeitungen mit überschwenglichem Lob bedacht. Das Warschauer Amtsblatt schrieb, daß Polen dereinst auf Chopin so stolz sein werde, wie Deutschland auf Mozart - "ein offenkundiger Nonsens" bemerkt Chopin ärgerlich dazu in einem Brief. Hat aber die Zeitung nicht recht behalten, ist die Prophezeiung nicht sogar übertroffen worden? In diesem Jahr feiert Polen den 150. Geburtstag seines Heros mehr als Deutschland Mozarts 200. Geburtstag im Jahr 1956: im Februar 1960 fand ein ausschließlich Chopin gewidmeter internationaler musikwissenschaftlicher Kongreß in Warschau statt; ein Klavierwettbewerb, ebenfalls nur mit Werken von Chopin, schloß sich an, bei dem die bedeutendsten Chopin-Interpreten aus aller Welt die Jury bildeten; die Werke Chopins, von denen die Eigenschrift erhalten ist, sollen in Faksimile-Ausgaben der Handschrift veröffentlicht werden; die unter dem Namen von Ignaz Paderewski herausgegebene Urtextausgabe der Klavierwerke Chopins soll durch eine streng wissenschaftliche Ausgabe ergänzt werden - welchem Tonsetzer wurden je in seinem Heimatland solche Ehren zuteil? Mag sein, daß die Polen in berechtigtem Nationalstolz geneigt sind, die Bedeutung ihres einzigen großen Komponisten zu überschätzen, aber man darf auch bei strengster Objektivität feststellen, daß Chopins Klavierwerke alle Wandlungen des Geschmacks in den letzten hundert Jahren ohne Einbuße überstanden. Wie vieles von dem, was in jenen Jahrzehnten der Hochblüte des Klaviervirtuosentums komponiert wurde, ist untergegangen oder zum mindesten verblaßt, Liszts Klavierwerke nicht ausgenommen, wieviel auch von der deutschen Romantik, selbst Schumann nicht ausgenommen. Welchen Eigenschaften hat Chopins Klaviermusik die Weltgeltung zu verdanken, die sie heute noch unbestritten besitzt?

Da ist nötig, zunächst der weitverbreiteten Meinung entgegenzutreten, daß Chopin vor allem Romantiker sei. Was heißt denn romantisch? In den letzten Jahrzehnten ist das Wort und sein Begriff ja nahezu zu einem Schimpfwort geworden. Es bedeutet heute im allgemeinen Sprachgebrauch soviel wie gefühlvoll im abschätzigen Sinn. (So hörte ich neulich in einem Konzert nach der d-Moll-Symphonie von Schumann einen Konzertbesucher sagen: "Sie ist ein bisle romantisch - aber immer noch schön!") Wenn Chopins Musik "immer noch schön" wäre obwohl romantisch, dann wäre sie mit vielen gleichgearteten Werken ihrer Epoche längst untergegangen. Es tut bitter not, der Entwertung und Entleerung des Begriffs Romantik entgegenzutreten.

Freilich läßt sich die geistige Bewegung, die nach 1800 die Dichtung, die Altertumswissenschaft, die Philosophie und schließlich auch die Musik ergriffen hat, nicht auf einen leicht überschaubaren General-Nenner bringen, aber an einigen ihrer wichtigsten Merkmale läßt sich ablesen, was Chopin von der Romantik trennt. Die Romantik betont den Zusammenhang aller Künste und glaubt an einen fließenden Übergang von einer zu andern, und bei den echten Romantikern besteht ein inniger Zusammenhang zwischen ihrem Leben und ihrer Kunst. In diesem Sinn waren Berlioz und Liszt echte Romantiker; sie haben mindestens dieselbe Kraft auf das Leben selbst verwandt wie auf ihre Kunst. Man versteht die "Phantastische Symphonie" nicht, wenn man nichts von Berlioz' Leben und ihrer Bedeutung für das Leben von Berlioz weiß. Von Chopins Leben dagegen braucht man nichts oder nur die zwei Worte: Warschau-Paris zu wissen, denn sein ganzes äußeres Leben ist nur die blasse Folie seiner Kunst. Auch die Briefe geben uns wohl vom Familiensinn eines emigrierten Polen Kunde, aber für das Verständnis des Künstlers bedeuten sie nichts oder fast nichts. Und von einem romantischen Zusammenhang aller Künste, von einem Universalismus der Kunst ist bei Chopin vollends keine Rede; mit einer Einseitigkeit und Ausschließlichkeit, für die es in der Musikgeschichte nur noch ein einziges Beispiel gibt, nämlich Domenico Scarlatti, verschreibt sich Chopin einem einzigen Instrument, dem Klavier. Beide großen Klavierkünstler, Scarlatti und Chopin, haben auch charakterlich manches Gemeinsame: in ihrem Leben das Bestreben, in ihre persönliche Sphäre niemanden Eintritt zu gewähren, und in ihrer Kunst, die Möglichkeiten des Instruments bis zum letzten zu erschöpfen. Auch die Titel mancher Klavierstücke von Chopin - Ballade, Nocturne - deuten nicht auf verhüllte Programm-Musik, - alles steht in den Noten selbst. Wie romantisch hat ihn doch Schumann in seinem "Carnaval" mißverstanden: das kleine, mit "Chopin" überschriebene Stück ist echtester Schumann, ebenso die berühmte Rezension der Variationen über Mozarts "Là ci darem la mano", in die Florestan und Eusebius poetische Gedanken hineinlegen, die Chopin nie in den Sinn gekommen wären; er hat sich ja auch halb ärgerlich, halb spöttisch von dieser Kritik sehr deutlich distanziert.

Es wäre verkehrt, in Chopin einen legitimen Fortsetzer der großen klassischen Tradition von Haydn, Mozart und Beethoven sehen zu wollen. Er wächst in Warschau mit der üblichen Salonmusik der Zeit auf, und selbst noch in seinen ersten Pariser Jahren ist seine Kenntnis der deutschen Musik von Bach bis Beethoven mehr als lückenhaft, jedenfalls hat sie ihn nur sehr wenig beeinflußt. Auch in seinem Klavierunterricht in Paris ließ er vor allem die modische Literatur seiner Epoche spielen: neben Etüden von Cramer und Clementi vor allem Hummel (den er sehr schätzte), Weber, Hiller, Thalberg, Moscheies, Liszt, während er (und ganz Paris) nach Lenz damals von den Sonaten Beethovens nur drei (!) kannte: die As-Dur-Sonate op. 26, die Mondscheinsonate und die Appassionata. Die erstere spielte er in einem seiner wenigen Klavierabende, die er in Paris gab. Lenz, der zugegen war, hat uns darüber berichtet: "Mezzavoce säuselte er, aber unvergleichlich in der Cantilene ... ideal schön, aber weiblich". Nach dem Konzert fuhr Lenz mit Chopin in dessen Wohnung und konnte sich nicht enthalten, ihm da die Sonate so vorzuspielen, wie er sie selbst von Liszt gehört hatte. Chopin hörte sich das an und sagte: "Muß man denn immer deklamieren? Ich deute nur an, der Hörer soll sich das Bild selbst ausmalen". Diese Zurückhaltung im Ausdruck war es auch, die er an Mozart schätzte, während er an Bach die Vollkommenheit des Tonsatzes bewunderte. Er hat ja sogar in seinem Handexemplar des Wohltemperierten Klaviers noch an einigen Stellen den Tonsatz verbessert, wo ihm diese Vollkommenheit nicht ganz erreicht zu sein schien!

Hier wird ein anderer, ebenfalls antiromantischer Zug in Chopins Wesen offenbar; das Bestreben nach Sauberkeit bis ins letzte Detail, und das ist wohl auch der Grund, warum uns Chopin auch in schwächeren Werken nie ganz enttäuscht. Hierin berührt er sich mit dem ihm sonst so wesensfremden Johannes Brahms, und das scheidet ihn deutlich von dem al-fresco-Stil Liszts. Um die zwölf großen Etüden Liszts spielen zu können, muß man schon einen sehr hohen Grad von Technik erreicht haben, - aber braucht man sie dann noch zu spielen? Chopin dagegen stellt in jeder der 24 Etüden op. 10 und op. 25 den Spieler vor ein besonderes pianistisches Problem, das nicht nur gestellt, sondern auch gelöst wird. So stellen Chopins Etüden in der Tat eine heute noch nicht übertroffene "Hohe Schule des Klavierspiels" dar, sie bilden die Pforte zur Virtuosität, durch die jeder gehen muß. Bis dahin kann man auch ohne Etüden auskommen, wenn man das Wohltemperierte Klavier studiert und nebenbei technische Spezial-Studien treibt (als ich Klavierschüler von Max Reger war, hat er mir dafür die "Technischen Übungen" von Mertke empfohlen, die er selbst früher studiert hatte). Daß die Etüden Chopins zugleich auch Klavierdichtungen sind, stellt sie in die Nähe der Etüden von Henselt, denen sie freilich an Formkraft und Gehalt weit überlegen sind.

Nur vom Klavierspieler Chopin her ist der Komponist zu verstehen. Es ist, als ob seine Finger komponiert hätten, so eminent klaviermäßig sind alle seine Werke. Daher rührt auch bei seinen Jugendarbeiten und bei manchen schwächeren späteren Kompositionen ihr Mangel an Geistigkeit, ein Mangel, den Chopin in strenger Selbstzucht allmählich überwunden hat. Der Salon- und Virtuosen-Stil der Jahrzehnte zwischen 1820 und 1850 ist uns ja unendlich gleichgültig geworden, und es gibt auch unter Chopins Kompositionen einige, die sich nicht genügend über diesen Zeitstil erheben, um uns heute noch zu fesseln: die schon erwähnten Variationen op. 2, die sehr frühen über ein Schweizerlied in E-Dur, die späteren in B-Dur op. 12, die Fantasie über polnische Lieder op. 13 und einige andere mehr. Sie zeigen immerhin, daß Chopin, als er mit zwanzig Jahren Warschau verließ, schon auf einer höheren Stufe der Selbständigkeit stand als Beethoven am Schluß seiner Bonner Jugendjahre.

Chopin ist Pole, nicht Halbfranzose (vom Vater her), wie man heutzutage noch vielfach meint. Es ist wahrscheinlich, wenn auch urkundlich nicht lückenlos zu belegen, daß Chopins Urgroßvater polnischer Abstammung war und seinen polnischen Namen "Szop" französisierte, als er mit Stanislaus Leszczynski nach Frankreich ging und dort einen Weinhandel aufmachte. Sein Enkel (Chopins Vater) wanderte 1787 nach Polen zurück; französisches Blut konnte Chopin also höchstens von zwei mütterlichen Vorfahren als Erbteil mitbekommen haben. Freilich verdankt er als Künstler auch der französischen Kultur unendlich viel, sie hat seinem Stil die unnachahmliche Eleganz gegeben. Aber viel mehr konnte sie ihm nicht geben, es war keine große Zeit: Die Jahre, die Chopin in Paris verbrachte (von 1831 bis zu seinem Tod 1849) fallen fast genau mit der Regierung des Bürgerkönigs Louis Philippe zusammen (1830 - 1848). Diese Zeit ist in der französischen Literatur oft und anschaulich, wenn auch nicht sehr schmeichelhaft geschildert worden (Stendhal, Flaubert, Victor Hugo, Balzac). Sie ist gekennzeichnet durch ein fast völliges Fehlen aller höheren Ideale wie Tapferkeit, Ehre, Vaterlandsliebe, durch ein unverhülltes und schamloses Streben nach Genuß und Wohlleben, durch eine Entwertung aller sittlichen Grundbegriffe besonders im Verkehr der Geschlechter, zusammengefaßt: durch den haut go t der tonangebenden Gesellschaft, die glaubte, Frankreich zu verkörpern, während das wahre, unsterbliche Frankreich von den Bauern auf dem flachen Lande repräsentiert wurde, die wie seit Jahrhunderten arm und fleißig, ohne vom Treiben in der Hauptstadt Notiz zu nehmen, ihren Boden bebauten und ihre Reben zogen. Es ist ein Beweis für den auf äußere und innere Sauberkeit bedachten Lebens-Stil Chopins, daß er sich mit dieser Gesellschaft nicht mehr einließ, als es nötig war, um seinen Ruf als bevorzugter Klavierlehrer der Geld- und Geburts-Aristokratie aufrechtzuerhalten. Aufgeschlossen und herzlich verkehrte er nur mit seinen gleichfalls emigrierten Landsleuten. In seinem Verhältnis zu der Schriftstellerin, die unter dem Namen George Sand ja nun wirklich ein romantisches Leben führte, spielt sie die Rolle des männlichen fordernden, er die des schüchtern abwehrenden weiblichen Partners. Als sie ihn drängt, mit ihr und ihren beiden Kindern einen Winter auf Mallorca zuzubringen, ist er - sehr im Gegensatz zu Marie d'Agoult und Franz Liszt - so ehrpusselig, daß sie vorausreisen muß und er erst in Südfrankreich, wo ihn niemand kennt, zu ihr stößt. Aber selbst diese, über mehrere Jahre sich hinziehende Beziehung ist für den Komponisten Chopin fast belanglos geblieben, wenngleich die Biographen gerade hier reiche Ausbeute gefunden haben. Immerhin: nach dem Winter in Mallorca beginnt für Chopin die zweite Periode seiner Pariser Jahre, die dadurch von der ersten verschieden ist, daß nach einem kurzen neuen Aufblühen der Schöpferkraft die unheilbare Krankheit immer stärker in den Vordergrund tritt und seine Tätigkeit als Lehrer und Komponisten so sehr einschränkt, daß er in den letzten Jahren sogar in wirkliche Geldnot gerät, aus der ihn seine schottische Schülerin und Gönnerin Jane Stirling diskret befreit.

Das polnische Element dominiert auch im Künstler Chopin so sehr, daß seine polnischen Werke zugleich seine besten sind: das sind die Mazurken. In ihnen ist nichts vom Salon- und Virtuosen-Komponisten zu spüren, sie geben mit den denkbar einfachsten Mitteln den dichten Extrakt einer kunstvoll gefaßten Volksmusik. Nicht als ob Chopin originale Volksmelodien verwandt hätte wie Liszt in seinen Ungarischen Rhapsodien, er ist auch nicht zum Volk hinausgegangen wie Bela Bartök, um ihm seine Weisen abzulauschen, vielmehr ist es das ihm angeborene polnische Naturell, das hier ohne jeden modischen Flitter zu uns spricht. Bedenkt man, in wie vielfältiger Weise Chopin den vorgegebenen Rhythmus der Mazurka abwandelt, wie er sich im Zeitmaß - vom Lento bis zum Presto - alle Freiheit nimmt, wie jede Mazurka ein scharf gezeichnetes Charakterstück darstellt, das auch ohne eine Beziehung zu einem Tanztyp bestehen könnte, dann muß man diese am stärksten mit Substanz erfüllten Werke Chopins immer von neuem bewundern und lieben, - und sich zugleich verwundern, daß die großen Virtuosen in ihren Programmen fast achtlos an ihnen vorbeigehen! Ganz anders faßt Chopin die Polonaise auf: als eine höfische, aristokratische Tanzszene, die er mit dem ganzen Zauber einer veredelten Virtuosität ausstattet. Aber auch da gibt es einfache, monumentale, heroische Stücke wie die Polonaisen in c- und es-Moll. Die bekannteste, die in A-Dur mit ihrem stählernen Rhythmus, ist nur scheinbar leicht, in Wirklichkeit aber ein Stück, das, wenn es mit dem hinreißenden Rhythmus gespielt wird, den es verlangt, eine ähnlich faszinierende Wirkung ausüben kann wie der Rakoczy-Marsch in Liszts Bearbeitung. In diesem Primat des Rhythmus ist Chopin den meisten deutschen Musikern der damaligen Zeit überlegen; man vergleicht den oft so phlegmatischen Rhythmus bei Schubert (unbeschadet der Bewunderung für ihn als Melodiker und Harmoniker!). Den Walzern Chopins fehlt natürlich der nationale Einschlag, sie sind Konzertwalzer, wie sie nach Webers "Aufforderung zum Tanz" häufig geschrieben wurden. Steigen wir nun in die Herzkammer Chopinscher Lyrik ein, in die Nocturnes. Daß ihn dazu der brave, korrekte Field angeregt haben soll, ist bekannt, sagt aber wenig über diese duftigen Tondichtungen aus, die Chopin vor allen andern Werken berühmt gemacht haben. Wie viele schwärmerische Mädchen (und nicht nur Mädchen!) haben ihre eigenen Träume in diese Musik hineinverwoben! Wenn das nicht Romantik ist, möchte man fragen, was soll dann romantisch sein? Nein - und auch hier kann der Gegensatz zu Schumann das verdeutlichen: in der Fis-Dur-Romanze von Schumann besitzen wir eines der schönsten Stücke der deutschen Romantik, das ist wie ein Nachtgedicht von Eichendorff. Chopins bekannteste Nocturne, auch in Fis-Dur, in ihrer Art nicht weniger schön, spricht dagegen ganz andere Empfindungen aus. Wir sind nicht in der Natur, sondern im Salon (das Wort ohne jede abschätzige Nebenbedeutung gebraucht); es ist eine Musik, die schwächere Naturen entnerven kann, wenn das Hauptinteresse nicht, wie es sein sollte, der künstlerischen Diktion gehört. Vielleicht sind aber diese Werke gerade deswegen bei so vielen Spielern beliebt, die für die Größe der Mazurken kein Organ besitzen? Manchmal erheben sich auch die Nocturnes zu wahrer Leidenschaft, wie die in cis-Moll, die vielleicht vom ersten Satz von Beethovens cis-Moll-Sonate her ihre Anregung empfing (auffallend das genau gleiche Tempo bei Beethoven und Chopin). Ich will auch gestehen, daß ich als Knabe jahrelang im bann der G-Dur-Nocturne (op. 37, Nr. 2) mit ihren verschlungenen Doppelgriffketten und der sehnsüchtigen Melodie des Mittelsatzes gestanden habe.

Die letzte Vergeistigung und Vereinigung des Salonstils und des virtuosen Klavierstils aber stellen die großen freien Klavierschöpfungen Chopins dar, denen er Titel wie Ballade, Scherzo, Impromptu gab, auch die F-Moll-Fantasie und die Barcarole, die weit mehr ist als eine Barcarole, gehören dazu. Die Form dieser großen Klavierstücke ist die frei behandelte große Liedform, die in der Zeit nach Beethoven die Vorherrschaft der Sonate gebrochen und sich an ihre Stelle gesetzt hat. Die einfachste Formgebung, nämlich die dreiteilige Liedform, weisen die vier Impromptus auf, vierteilig mit scharfer Trennung der Teile ist die Ballade F-Dur - a-Moll, komplizierter und in der damaligen Klaviermusik ohne Vorbild ist die Form der übrigen drei Balladen und des b-Moll-Scherzos. Das Scherzo (schon in Warschau entworfen!) hat eine dreiteilige Grundform (der Mittelteil steht in A-Dur, cis-Moll, E-Dur), aber wie genial ist sie erweitert! Schon der erste Teil, der wie in einer Sonate wiederholt wird, weist ein "zweites Thema" auf; das Wesentliche ist aber die außerordentlich ausgeweitete, durchführungsartige Rückleitung vom Mittelteil zum abschließenden Hauptteil. Auch in der g-Moll-Ballade ist der Gegensatz zwischen dem ersten und zweiten Thema (Meno mosso, Es-Dur) mit wahrer Genialität herausgearbeitet, wenn das zweite Thema in strahlendem A-Dur sich weit über das erste erhebt (was in der Klassik unmöglich gewesen wäre und auch in der deutschen Romantik kaum vorkommt), so daß das erste Thema immer mehr in den Hintergrund, man möchte sagen in die Defensive gedrückt wird und erst in der Coda - freilich völlig verändert - in höchster Leidenschaftlichkeit wieder erscheint und die Führung bis zum Schluß behält! Es ist merkwürdig, daß man diesen Formproblemen bei Chopin bis jetzt so wenig Beachtung geschenkt hat - man spricht fast immer nur vom Tempo rubato und vom Verzierungsstil!

Die Verzierungen! Auch sie gehören zum Stil Chopins. Nachdem sie im 18. Jahrhundert in der galanten Zeit in Frankreich ihre höchste Ausbildung erfahren hatten, verschwinden sie fast ganz durch die bewußte Abkehr des Klassizismus und halten sich nur noch auf dem einzigen von der sozialen Umwälzung nicht betroffenen Gebiet, der italienischen Oper. Von hier aus werden sie im Zeitalter von Rossini, Bellini und Donizetti auf die Instrumentalmusik der Salons zurückübertragen, finden sich daher in allen Opernfantasien der Zeit und sinken mehr und mehr zum leeren Geklingel herab. Auch Chopin war ja bekanntlich ein eifriger Besucher der Italienischen Oper in Paris und gab seinen Schülern den Rat, den dortigen berühmten Sängern den Stil ihrer Verzierungen abzuhören und auf das Klavier zu übertragen. Er selbst steht darin freilich ebenso hoch über seiner Zeit wie in seiner Melodik und Rhythmik: seine Verzierungen sind immer beseelt. Darin, daß er sie schreibt, macht er seiner Zeit Konzessionen, - wie er sie schreibt, darin ist er eben Chopin.

Seine beiden Sonaten in b- und h-Moll (die Jugendsonate in c-Moll zählt nicht) sind oft abschätzig beurteilt worden: Chopin habe mit der Sonatenform nichts Rechtes anfangen können. Nun, dieser Vorwurf träfe dann auch die meisten deutschen Romantiker, am allermeisten Schubert; nur Franz Liszt hat in seiner h-Moll-Sonate einen genialen Versuch gemacht, die Sonate weiterzuentwickeln und gleichzeitig die Sätze zu einer Einheit zusammenzufassen. Freilich folgt Chopin in der Zahl und Anordnung der Sätze und in ihrem Bauplan den zu seiner Zeit bereits als unumstößlich aufgestellten Gesetzen, aber auch hier liegt seine Größe in dem höchst persönlichen Stil, den er unter Beibehaltung dieser Formen entwickelte, - wenngleich nicht mit derselben Freiheit wie in seinen freien Klavierdichtungen.

Wenn nun im Folgenden noch auf einige Eigentümlichkeiten des Chopinschen Klavierstils aufmerksam gemacht werden soll, möchte ich in erster Linie den auffallend regelmäßigen Phrasen- und Periodenbau nennen. Es ist merkwürdig, daß er in der großen Literatur über Chopin kaum erwähnt wird. Wir finden bei ihm oft auf weite Strecken durchgehende Viertaktgruppen, manchmal über ganze Seiten, ohne irgendeine Unregelmäßigkeit. Das mag von den Tanzformen bedingt sein, es trägt auch wohl zu der (allgemein festzustellenden) leichten Verständlichkeit der Werke Chopins bei, aber einen Mangel an formaler Spannung bedeutet diese allzu große Regelmäßigkeit eben doch, besonders im Vergleich zu Mozart, wo wir in jedem Augenblick auf eine metrische Umdeutung gefaßt sein müssen oder dürfen - von der polyphonen Musik Bachs ganz zu schweigen. Dieser Regelmäßigkeit steht aber die Freiheit gegenüber, die sich innerhalb einer Phrase die Melodie nehmen darf. Während die linke Hand streng den Takt durchhält, darf die rechte hier etwas zugeben, dort etwas wegnehmen, oder, wie man früher sagte "rauben": das ist die Bedeutung des viel zitierten "Tempo rubato", das ja nicht erst von Chopin erfunden worden ist, sondern im Gesangstil des 18. Jahrhunderts schon im Gebrauch war. Chopin war aber der erste, der diesen Vortragsstil vom Gesang auf das Klavier übertragen hat, wenn auch in Philipp Emanuel Bachs "Versuch, über die wahre Art, das Clavier zu spielen", schon Bedeutendes und Lesenswertes über die Freiheiten steht, die der ausübende Künstler sich nehmen darf und soll. Eine weitere Eigentümlichkeit von Chopins Handschrift sind die zahlreichen großen Phrasierungs-Bogen, die bisweilen ganze Zeilen, ja Seiten überspannen (z. B. in der As-Dur Etüde op. 25, Nr. 1). In manchen instruktiven modernen Ausgaben (ja selbst in der Paderewski-Ausgabe) sind diese Bogen an manchen Stellen in kleinere Bogen aufgeteilt worden, aus denen die richtige Phrasierung hervorgeht. Damit zerstört man aber Chopins Absicht: er hält einen grammatikalisch richtigen Vortrag für selbstverständlich, will aber nicht, daß die Phrasen-Enden allzu schülerhaft durch Zäsieren betont werden. Der Spieler sei sich auch stets darüber klar, daß die Tempo-Vorschriften einschließlich der Metronombezeichnungen und die Pedal-Vorschriften von Chopin selbst angegeben sind. Wie Mikuli überliefert, kam bei Chopins Klavierstunden das Metronom nie vom Klavier (es war ein Pianino, auf das man am Ende der Stunde diskret ein Goldstück zu legen hatte); wir müssen aber seine Metronomangaben, die für die sehr leicht gehenden Pleyel-Klaviere gedacht waren und daher oft für unsere Begriffe zu hoch sind, auf unsere Instrumente mit ihrem tieferen Tastenfall sinngemäß übertragen, d.h. etwas reduzieren. Niemand wird die großartige erste Etüde von op. 10 in Viertel = 176 herunterrasseln, Viertel = 152 - 160 dürften eher angemessen sein. Wie bei Beethoven überspannt an einigen Stellen auch Chopin mit dem Pedal einen Harmoniewechsel, was ebenfalls bei unserer stärkeren Pedalwirkung kaum mehr anzuraten ist. In den Etüden sind viele Fingersätze von Chopin selbst, leider sind es aber nur wenige Ausgaben, die den Unterschied der originalen und der vom jeweiligen Herausgeber hinzugefügten Fingersätze dem Spieler kenntlich machen: ich nenne die sogenannte Oxford-Ausgabe, die polnische (Paderewski-)Ausgabe und die neue Henle-Ausgabe, von der allerdings bis heute erst die Préludes vorliegen. Auch die beiden erstgenannten Ausgaben genügen noch nicht allen Ansprüchen: Die Oxford-Ausgabe stützt sich zu einseitig auf die französische Erstausgabe und berücksichtigt spätere Korrekturen, die Chopin im Unterricht vornahm, die aber kaum seinen letzten Willen darstellen dürften; die Paderewski-Ausgabe ist überaus sorgfältig, korrigiert aber unnötigerweise an mehreren Stellen Chopins eigenwillige Orthographie im Sinne der Riemannschen Funktionstheorie (aber Chopin hat Riemann noch nicht gekannt!). Das Verhältnis vom Manuskript zu der französischen und deutschen Erstausgabe macht jedem Herausgeber Chopins Kopfzerbrechen. Es ist bisweilen schwer zu entscheiden, ob eine Bezeichnung absichtlich vom Komponisten von der Eigenschrift in den Druck nicht übernommen worden ist, oder ob das nur aus Flüchtigkeit unterlassen wurde? Es gibt auch Fälle, in denen Versetzungszeichen, die im Manuskript fehlten, auch in den Erstausgaben und den meisten folgenden Ausgaben nicht stehen, obwohl sie, wie aus Zeugnissen von Chopins Schülern hervorgeht, gesetzt werden müssen. Zwei berühmte Beispiele: in der Terzen-Etude gis-Moll op. 25 Nr. 6 muß in Takt 7 und 8 in der rechten Hand ein a2 (nicht ais2) stehen, und im c-Moll-Prélude heißt das letzte Viertel des 4. Taktes es1 (nicht e1). Am Schluß der As-Dur-Etude op. 10 Nr. 10 steht im drittletzten Takt, nach sechs Takten diminuendo und smorzando im Manuskript plötzlich klar und deutlich ein forte-Zeichen, das weder in den Erstausgaben noch in irgendeiner der vielen späteren Ausgaben sich findet. Ich halte es für echt, es gibt dem Schluß eine neue, überraschende Farbe, aber es ist möglich, daß Chopin vor seinem eigenen Mut erschrocken ist und es beim Druck wieder gestrichen hat.

Die eingangs gestellte Frage, welchen Eigenschaften Chopin seine heute noch, im Umbruch der Zeiten unvermindert anhaltende Weltgeltung zu verdanken habe, ist mit den vorstehenden Ausführungen wenigstens in den Umrissen beantwortet: seine Eigenart und Bedeutung beruhen in erster Linie in der polnischen Folklore, die den Grundzug seines Wesens und seiner Musik ausmacht, weiterhin in der Sublimierung des virtuosen Salonstils und der französischen Eleganz der Diktion, in der sauberen Ausarbeitung auch des kleinsten Details und in einer - bis heute noch nicht genügend gewürdigten - souveränen Beherrschung der Form. Aus der Vereinigung all dieser so verschiedenen Faktoren erklärt sich die internationale Bedeutung Chopins, dessen ganzes Leben nur Dienst an seiner Kunst war.

Quelle:
Musica, März 1960