1960 · Johann Sebastian Bach

Universitas

Breitkopf & Härtel; vorliegende Ausgabe aus Leipzig: 63. Tausend, 1954; vorliegende Ausgabe aus Wiesbaden: 1957; 791 Seiten

Im Jahre 1873 war der erste, im Jahr 1880 der zweite Band der großen Bach-Biographie von Philipp Spitta erschienen, wohl die imposanteste musikgeschichtliche Leistung des ganzen 19. Jahrhunderts, ein Werk, das nicht nur das Leben und Schaffen Bachs, sondern auch das seiner Umwelt und seiner Vorgänger, besonders Buxtehude und Schütz, auf Grund von umfassender Quellenforschung erstmals erleuchtete. Aus ihr hatten die in der Folgezeit erschienenen kleineren Biographien geschöpft, ohne sie auszuschöpfen.

Einen neuen Klang und einen entscheidenden, bis heute fortwirkenden Anstoß erhielt aber die Bachforschung erst durch ein Buch des jungen elsässischen Theologen Albert Schweitzer: "J. S. Bach, le musicien poète", das 1905 in französischer Sprache, dann bedeutend erweitert 1908 in deutscher Sprache unter dem schlichten Titel "J. S. Bach" erschien. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß wohl noch nie eine Musikerbiographie einen so raschen und anhaltenden Erfolg sowohl bei Fachleuten wie bei Laien gehabt hat wie dieses Buch, das schon 1911 von dem bedeutenden englischen Musikforscher Ernest Newman ins Englische übersetzt wurde, und das ohne Veränderung des Textes (von ein paar kleinen Verbesserungen abgesehen) schon 1931 seine achte Auflage erlebt hatte, und noch heute für viele Leser den besten Zugang in die Welt Bachs bildet. Wir stellen die drei Fragen: welchen Vorzügen verdankt es diesen außergewöhnlichen Erfolg? Wie war seine Wirkung auf die Bach-Forschung? Wieweit haben seine Ergebnisse heute - nach mehr als fünfzig Jahren - noch Gültigkeit?

Da ist zunächst der klare und fesselnde Stil, der alle Werke Schweitzers auszeichnet, durch den sich der Leser unmittelbar angesprochen fühlt, sodann die ebenso klare und einleuchtende Disposition des Buchs. Während - auch heute noch - so viele Autoren eben die Lebensgeschichte ihres Helden erzählen mit eingestreuten, allgemein gehaltenen Bemerkungen über die Werke, die als bekannt vorausgesetzt werden, ist für Schweitzer das äußere Leben nur die Folie für seine Kunst. Nur knapp ein Drittel des Buchs ist ihm gewidmet: in den einleitenden Kapiteln wird zunächst ein Bild der Kultur des protestantischen Deutschland im 17. Jahrhundert entworfen und von Bachs Vorfahren berichtet, sodann das Leben ohne überflüssiges Detail, stets mit dem Blick auf das Wesentliche, geschildert, der Charakter, die Künstlerpersönlichkeit und die Nachwirkung Bachs, seine Wiederauferstehung im 19. Jahrhundert dargelegt. Dann aber gehört der Hauptteil des Buchs den Werken selbst: nach Gattungen getrennt werden die Orgelwerke, die Klavierwerke (beide mit Anweisungen für die Wiedergabe - welcher Biograph hätte sich erkühnt, dafür Vorschläge zu machen?!) und die Kammermusikwerke behandelt, dann folgen nach grundlegenden Betrachtungen über "Dichterische und malerische Musik" und über "Wort und Ton bei Bach" die Choräle, die Kantaten und Passionen, die Motetten und Lieder und die Messen. Ein Schlußabschnitt ist der Wiedergabe der Vokalwerke gewidmet, über die Schweitzer aus eigener Erfahrung ebensoviel auszusagen wußte, wie über die instrumentalen Werke Bachs.

Diese klare und übersichtliche Disposition ist wohl von keiner anderen Musikerbiographie wieder erreicht worden, außer vielleicht von Hermann Abert in seinem zweibändigen "Mozart" (1919). Darin war Schweitzer Spitta, als dessen "Schuldner" er sich bescheiden bezeichnet, weit überlegen, denn, daß die beständige Vermischung von Biographie und Werkbetrachtung die Lektüre von Spittas Monumentalwerk sehr erschwert, weiß jeder Benutzer. Klarheit des Stils und der Disposition ist aber der Hintergrund, auf dem nun die neuen Gedanken Schweitzers, mit denen er bewußt über Spitta hinausgeht, sichtbar werden. Er will "die Musikliebhaber zum selbständigen Nachdenken über das Wesen und den Geist der Bachschen Kunstwerke und die beste Art ihrer Wiedergabe anregen". Zur Zeit Spittas war der Kampf zwischen den konservativen Vertretern der absoluten Musik und den Vorkämpfern der neudeutschen Richtung auf dem Höhepunkt (nebenbei gesagt, haben beide Richtungen gesiegt: die Symphonien von Brahms haben sich ebenso behauptet wie die Musikdramen Wagners, nur die schwächeren Vertreter beider Richtungen sind untergegangen), und es war fast selbstverständlich, daß Bach von der konservativen Partei mit Beschlag belegt wurde; Musik als "tönend bewegte Form" schien sich am reinsten in den Präludien und Fugen Bachs auszusprechen.

Schweitzer zeigte nun zunächst an den Choralvorspielen Bachs für Orgel, daß diese nichts weniger als absolute Musik seien, sondern daß Bach aus dem Text irgend eine Vorstellung, meist ein "Bild" herausgegriffen und in Tönen nachgebildet habe. So fand er in den Choralvorspielen und natürlich noch mehr in den Kantaten und Passionen Bachs eine Reihe charakteristischer Motive: Schrittmotive, Tumultmotive, Wellenmotive, "Motive des seligen Friedens" und andere. "Fast alle charakteristischen Ausdrücke, die durch regelmäßige Wiederkehr in den Kantaten und Passionen auffallen, gehen auf etwa zwanzig bis fünfundzwanzig meistens bildlich bedingte Elementarthemen zurück." Man übersehe das Wort "meistens" nicht: Schweitzer kennt auch nichtbildliche Motive, etwa die absteigende Chromatik als Ausdruck des Schmerzes (die schon vor Bach gebräuchlich war). Daß eine solche "Motivtafel" mit der von Hans von Wolzogen von für Wagners "Ring der Nibelungen" aufgestellten Tabelle der Leitmotive eine gewisse Verwandtschaft aufweist, läßt sich nicht leugnen, und daß man beide durch übermäßigen Gebrauch ad absurdum führen kann, ist ebenfalls einleuchtend. Vielleicht lag dergleichen aber um die Jahrhundertwende im Zuge der Zeit? Es ist ja merkwürdig, daß fast gleichzeitig mit Schweitzer noch ein zweiter linksrheinischer Beitrag zu einer neuen Ästhetik der Werke Bachs kam: der französische Musikforscher Andre Pirro ließ 1907 in Paris eine "Esthétique de Jean Sebastian Bach" erscheinen, die sich in ihrer Zielsetzung und ihren Ergebnissen nahe mit Schweitzer berührt, obwohl beide unabhängig voneinander gearbeitet haben. Pirros Arbeit wurde von Schweitzer überschattet und hat daher, zum mindesten in Deutschland, keine tiefere Wirkung ausgeübt.

Es gehört zum Wesen Schweitzers, alles Geistige zugleich auch von der handwerklichen Seite anzupacken. So ist es zu verstehen, daß er aus der Reserve, in der ein reiner Forscher sich gegenüber der realen Welt verhält, heraustritt und von seiner neuen Schau aus Vorschläge für eine Wiedergabe der Werke Bachs gibt, so wie sie das neue Bachbild forderte. Dafür kam das Buch Schweitzers gerade zur rechten Zeit, als eine subjektive, moderne Ausdeutung Bachs auf dem Höhepunkt angekommen und schon innerlich brüchig geworden war. Die erste, für das ganze 19. Jahrhundert maßgebende Modernisierung Bachs hatte 1837 Czerny mit seiner epochemachenden Ausgabe der Klavierwerke Bachs vorgenommen, er interpretierte Bach, um es kurz zu sagen, im Geiste Beethovens. Die Zeit um 1900 interpretierte Bach im Geist der Spätromantik, wofür die Namen von Max Reger und Karl Straube (s. seine Ausgabe des zweiten Bandes der Orgelwerke) stellvertretend stehen mögen. "Wie wäre Bach froh gewesen, wenn er an Stelle eines dürftigen Cembalos oder Clavichords einen modernen Bechstein-FIügel, an Stelle seiner alten mechanischen Orgel eine moderne mit allen Spielhilfen, an Stelle seines Thomanerchors mit dreißig bis vierzig Buben einen großen, gut geschulten Oratorienchor zur Verfügung gehabt hätte?!" So dachten viele, und dagegen wandte sich nun Schweitzer mit seinem ganzen Temperament: er spottete über die Organisten, die eine Fuge auf dem dritten Manual begannen und sie am Schluß fischleibartig sich verjüngen ließen; er zeigte, daß Bachs Chorwerke ein Gleichgewicht von Chor und Orchester verlangten, so daß eine kleinere Besetzung von selbst gegeben war, er wandte sich dagegen, den flächigen Stil Bachs ins Malerische umzudeuten, er zeigte die Notwendigkeit, aus der Bildlichkeit dieser Musik ihre Wiedergabe abzuleiten. Er wandte sich besonders gegen die viel zu schnellen Tempi der Klavier- und Orgel-Virtuosen und stellte die goldene Regel auf, daß man ein Stück in dem Tempo vortragen solle, das dem Spieler zu Beginn seines Studiums als das angemessene erschienen sei, nicht das oft viel raschere, das man nach Überwindung der technischen Schwierigkeiten als richtig ansieht, während ja doch der Hörer das Werk in vielen Fällen zum erstenmal hört.

Die Wirkung dieser Kritik Schweitzers an der spätromantischen Wiedergabe der Bachschen Werke war stark und augenblicklich. Aber auch die Forschung hat sofort an Schweitzers Gedanken angeknüpft, hat sie weitergeführt und vertieft. Man kann die Entwicklung, die die Bachforschung der letzten fünfzig Jahre, ausgehend von Schweitzer, genommen hat, etwa mit den Worten definieren: von der Tonmalerei zur Symbolik. Die Bachforschung ist im letzten Halbjahrhundert unübersehbar groß geworden, und alle Nationen haben sich an ihr beteiligt. Man erkannte den tiefen Zusammenhang Bachs mit dem Luthertum seiner Zeit, man forschte der Symbolik seiner Tonsprache nach. Vor allem hat der 1941 verstorbene Arnold Schering Schweitzers Gedanken vertieft und weitergeführt; seine dahin gehörenden Aufsätze hat sein Schüler Wilibald Gurlitt unter dem Titel "Das Symbol in der Musik" posthum herausgegeben. Auf Schering hat Friedrich Blume weitergebaut, und so darf man sagen, daß der seltene Fall eingetreten ist, daß ein geisteswissenschaftliches Werk noch fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen weiter wirkt, ohne daß eine Gegenströmung aufgetreten wäre. Hatte Schweitzer den Kanon bei Bach für ein rein musikalisches Kunstmittel angesehen, das ein so großer Könner wie Bach eben gelegentlich anzuwenden pflegte, so zeigte Schering, daß in vielen Fällen der Kanon symbolisch aufzufassen ist: als Unterordnung unter das Gesetz, als unbedingte Nachfolge, ja selbst als Nachplappern usw.

Die dritte Frage, ob Schweitzers Bachbild noch heute Gültigkeit habe, ist damit zum Teil schon beantwortet. Es ist ja selbstverständlich, daß wir über viele Einzelheiten in Bachs Leben, in seiner Kunst, und besonders in der deutschen Musikgeschichte um und vor Bach heute genauer unterrichtet sind als im Jahr 1905. Besonders ist das Jahrhundert von Schütz bis Bach heute gründlich erforscht worden, aber tut das der Bedeutung, die Schweitzers Arbeit auch für uns noch hat, Abbruch? Man bedenke, daß um 1900 in den musikalischen Ausbildungsstätten, den Konservatorien für Musik, fast nur die Musik der Wiener Klassiker und die des 19. Jahrhunderts gepflegt wurde; Bach galt als "instruktiv" und trocken, wenn man ihn mit der Musik der Romantiker verglich; hinter Bach war terra incognita, ja selbst der Name von Heinrich Schütz und seine Werke, die heute Millionen von Menschen ein kostbarer Besitz sind, waren nur einem kleinen Häuflein von Kennern bekannt. Und ist es nicht bezeichnend, daß bis heute Schweitzers Buch das einzige auch für einen Laien lesbare Bachbuch geblieben ist, wenn man von den vielen kleineren populären Darstellungen absieht, die inzwischen erschienen sind? Im Jahr 1950 ist Bernhard Paumgartner, der hochgebildete, feinsinnige Interpret Mozarts und Schuberts, mit einer auf zwei Bände berechneten Biographie Bachs hervorgetreten, von der aber bis heute nur der erste Band erschienen ist. Er zeichnet sich durch eine farbenreiche Schilderung des Lebens und der Umwelt Bachs aus, aber auch hier werden die Werke nur im Zusammenhang mit dem Leben und mit Bezug auf frühere Deutungen, die als bekannt vorausgesetzt werden, abgehandelt. Der Schwerpunkt der Forschung scheint heute in Einzelabhandlungen über bestimmte Werkgattungen (Klavierwerke, Orgelwerke, h-Moll-Messe usw.) zu liegen; es ist aber bis jetzt noch niemand gelungen, aus den Ergebnissen der heute fast unübersehbar gewordenen Bachforschung ein neues Gesamtbild zu konstruieren, und so steht Schweitzers Buch immer noch da als eine für den gebildeten Musikfreund unentbehrliche Einführung in den Geist und die Werke des Meisters. Als wissenschaftliche Leistung hat es bereits seinen festen Platz in der Geschichte, als künstlerische Leistung kann es nicht veralten, denn, nach einem schönen Ausspruch von Schopenhauer, die Kunst ist immer am Ziel.

Prof. Dr. H. Keller

Quelle:
Universitas, 41, 15. Jg., 1960
S. 116 - 118