1960 · Zwei Klavierwerke Mozarts

Acta Mozartiana

Es freut uns, daß der in Heft 4/1959 der "Acta Mozartiana" von Prof. Dr. Marguerre (Darmstadt) zur Diskussion gestellte Beitrag ein solch spontanes Echo gefunden hat. Wir veröffentlichen gern die Stellungnahme von Prof. Dr. Hermann Keller (Stuttgart).

Karl Marguerre hat in seinem geistvollen und fundierten Beitrag im letzten Heft der "Acta Mozartiana" die Frage nach der Datierung des Allegros in g-moll (KV 312) und der Echtheit der Sonate B-dur (KV Anh. 136) angeschnitten. Wenn ich nun zu der von ihm gewünschten Diskussion meinerseits einen Beitrag gebe, so tue ich zunächst mit Dank gegen den Verfasser, dafür, daß er mich auf ein seither von mir kaum beachtetes, bedeutendes Klavierstück aufmerksam gemacht hat, das ich nun in den Kreis meiner engeren Lieblinge unter Mozarts Klavierwerken aufgenommen habe. Unverständlich, daß mir das so lange entgehen konnte!

Aber nun: wo gehört es hin?

Die These von Marguerre, es sei im Anschluß an die Berliner Reise von 1789 und im Zusammenhang mit dem Auftrag, für die Prinzessin Friederike sechs leichte Klaviersonaten zu schreiben, entstanden, kann ich nicht annehmen. Da möchte ich zunächst auch gegen Einsteins Vermutung in der 3. Auflage des Köchel-Verzeichnisses Bedenken anmelden, wenn er meint, die Sonate in D-dur (KV 576, sogenannte "Jagd-Sonate") sei "die einzige wirklich komponierte von sechs leichten Klaviersonaten, die Mozart für die Prinzessin Friederike von Preußen zu schreiben geplant hat". Diese Sonate ist aber bekanntlich von allen Sonaten Mozarts technisch die schwerste (besonders ihr erster Satz) und kann daher kaum die erste von sechs "leichten Sonaten" sein, die nicht geschrieben wurden, weil Mozart zu solchen Arbeiten keine Lust mehr hatte. Anfänge einer leichten Sonate (in F-dur) finden sich in ein paar Skizzen (KV 590 a c); sie zeigen, daß Mozart sich bemühte, zu einer Anfängerin herunterzusteigen, daß er aber die Sache wieder liegen ließ. Ist es, beiläufig gesagt, nicht merkwürdig, daß sowohl Philipp Emanuel als auch Johann Christian Bach ebenso wie Mozart sich mißlaunig und unmutig über den Zwang ausgesprochen haben, Sonaten für den Unterricht, für das Publikum zu schreiben? Sie haben es trotzdem getan, aber die beiden Bache haben sich ausdrücklich von diesen Arbeiten distanziert, und wenn sich auch bei Mozart in den Klaviersonaten mehr und größere Qualitäts-Unterschiede als in den Violinsonaten finden, so ist dies wohl auf eben diesen Grund zurückzuführen.

Was nun den g-moll-Allegro-Satz auszeichnet, das ist eine starke, echte Leidenschaftlichkeit, die ihn in die Nähe der c-moll-Sonate stellt, und der durchbrochene Stil, die virtuose Einstimmigkeit der Verbindungsteile, die sich in keiner anderen Sonate Mozarts findet. Die strenge Nachahmung in der Oktave beim ersten Thema rückt ihn in die Nähe der kontrapunktischen Studien, die Mozart anfangs der achtziger Jahre betrieben hat, und ich würde ihn, da alle sicheren Anhaltspunkte fehlen, in die Jahre zwischen der d-moll-Phantasie und dem g-moll-Klavier-Quartett, also zwischen 1782 und 1784, datieren. Auch der pianissimo-Schluß (nach dem eine Wiederholung des zweiten Teils kaum statthaben kann, da die Überleitung fehlt) läßt an den Schluß des ersten Satzes der c-moll-Sonate denken. Aber wohin er auch gehören mag (was wir bis heute nicht sicher entscheiden können): er steht als Fremdling in Mozarts Sonatenwerk. (Noch ein weiterer Sonatensatz ohne Fortsetzung ist von den Spielern fast unbeachtet geblieben: das Allegro B-Dur (KV 372 a), wahrscheinlich 1781 komponiert, die Reprise von Abbé Stadler genau nach der Exposition ergänzt; der Satz ist ebenso schalkhaft, wie der g-moll-Satz leidenschaftlich, beide, in der Urtextausgabe der Klavierstücke Mozarts im Verlag Henle und bei Peters bequem zugänglich, sollten wieder Besitz der Liebhaber werden!).

Verwickelter ist der Fall der viersätzigen Sonate in B-dur; sie stand noch in einigen älteren Ausgaben der Mozart'schen Sonaten, ist aber von den neueren Herausgebern nicht mehr aufgenommen worden, denn sie ist, zum mindesten in drei Sätzen, von dem Thomaskantor August Eberhard Müller frei nach Themen Mozart'scher Klavierkonzerte "komponiert" (wobei man das Wort "komponieren" in seiner ursprünglichen Bedeutung: componere = zusammenstellen, auffassen muß!). Das ist evident für den zweiten Satz, für den Müller den 2. Satz des B-dur-Konzerts (KV 450) benutzt hat. Bei Mozart wird ein 16taktiges Thema zuerst vom Orchester vorgetragen und verziert vom Klavier wiederholt, dann folgen zwei Variationen, die zu den geistvollsten Mozarts gehören. Müller übernimmt das Mozart'sche Thema unverändert in seiner schlichten Gestalt, fügt drei eigene Variationen dazu, von denen die zweite leicht an Mozart anklingt, während die erste und dritte ganz frei komponiert sind. Daß der letzte Satz der Sonate aus Themen der Finalsätze der drei B-dur-Konzerte Mozarts zusammengesetzt worden ist, hat schon Einstein kurz bemerkt und Marguerre im einzelnen ausgeführt; von KV 456 hat Müller freilich nicht mehr als die überraschende Modulation nach h-moll (Mozart) bzw. H-dur (Müller) übernommen.

Ich möchte nun zeigen, daß auch der erste Satz der Müllerschen Sonate auf ein Klavierkonzert Mozarts zurückzuführen ist, nämlich auf das Konzert in d-moll (KV 466), freilich nicht in dem (noch unermittelten) Hauptthema selbst, sondern in seiner Fortführung (Takt 9 16), die aus den aufwärts drängenden Sechzehnteln der Takte 22 ff. nach dem ersten Soloeinsatz des Klaviers bei Mozart genommen sind. Ebenso ist es mit dem zweiten Thema bei Müller, das deutlich vom zweiten Thema des Klaviers in Mozarts Konzert abstammt. Darüber hinaus bleibt aber der kompositorische Anteil Müllers an den Ecksätzen beträchtlich und man sollte ihn nicht schmälern.

Wenn Müller für seine aus Elementen Mozart'scher Sätze zusammengestoppelte Sonate im ersten, zweiten und vierten Satz Gedanken aus den Klavierkonzerten übernehmen konnte, so war das natürlich beim Menuett nicht möglich, da die Konzerte ja keinen Menuettsatz besitzen. Schon die so erzielte Viersätzigkeit schließt jeden Gedanken an die Autorschaft Mozarts aus; Müller hat dabei Beethovens Klaviersonaten als Vorbild gehabt. Aber woher stammt dieses ganz ausgezeichnete Menuett, das man den besten Mozarts an die Seite stellen möchte? Es käme als Vorlage das Menuett einer Symphonie, eines Bläser-Divertimentos oder eines anderen Kammermusikwerks in Frage; jedoch sind alle Bemühungen, den Satz zu identifizieren, bis jetzt ergebnislos geblieben. Und von welch vollendeter Anmut ist das Trio, bei dem man schon an Schubert denken möchte! Das Menuett sollte in künftige Ausgaben Mozartscher Klavierstücke aufgenommen werden, wo es einen Ehrenplatz einnehmen würde; denn es kann nur von Mozart selbst sein (in der Ausgabe Henle steht es). Für die übrigen drei Sätze dieser angeblichen Mozart'schen Sonate wollen wir dem tüchtigen Kantor und Verfasser der besten Klavierschule seiner Zeit den Ruhm lassen, aus dem Gedankengut eines Größeren etwas gearbeitet zu haben, das immerhin so tüchtig geraten ist, daß selbst ein so gewiegter Mozartkenner wie Karl Marguerre ihm das nicht zutrauen wollte, sondern glaubte, einen erheblichen Anteil Mozarts an der Komposition annehmen zu müssen!

Quelle:
Acta Mozartiana
Mitteilungen der Deutschen Mozart-Gesellschaft e. V.
Siebenter Jahrgang 1960, Heft 1