1961 · 2. Vortrag in Tokyo

29.11.1961 - Musashino College

Bach ist so gross, dass keine Zeit ihn ganz erfasst, jede hat ihn von ihrem Standpunkt aus anders gesehen. Es ist so, wie wenn wir ein grosses Denkmal oder ein anderes Werk der Bildhauerei vor uns haben: Von jedem Standpunkt, den wir einnehmen, sieht es anders aus, aber nie können wir es von einem Standpunkt aus ganz erkennen. Man hat einmal halb im Scherz gesagt, das Grösste an Bach sei doch, dass er alle die verschiedenen Auffassungen und Interpretationen überlebt habe, ohne Schaden zu nehmen. In Wirklichkeit ist es aber - wie Sie alle wissen so, dass die Grösse Bachs von den Zeitgenossen und von der Generation nach ihm gar nicht erkannt worden ist. Warum? Waren die Musiker und die Musikliebhaber damals dümmer als heute? Sicher nicht, aber sie hatten einen anderes Ideal von Musik als Bach. Es wird gesagt, seine Söhne hätten von ihm ziemlich herablassend als von einer "alten Perücke" gesprochen. Ich weiss nicht, ob das so ist, aber sicher ist, dass Philipp Emanuel, der mit grossem Respekt von seinem Vater sprach, doch der Auffassung war, dass die Musik nach dem Tod des Vaters noch einen solchen Aufschwung genommen habe, dass sie jetzt erst, in dem galanten und empfindsamen Stil der Musik an den Höfen von Berlin und Dresden ihren Höhepunkt erreicht habe. Wir denken freilich anders darüber!

Es gab freilich auch Leute, die damals anders dachten: in England gab es im 18. Jahrhundert schon eine Gesellschaft für alte Musik, besonders für Kirchenmusik, auch in Deutschland gab es einen kleinen Kreis von Bachschülern, die seine Werke hochhielten. Für alle aber war er "alter Stil", d.h. kein Komponist, der Einfluss auf die Gegenwart nehmen konnte. Um das Jahr 1800 vollzieht sich eine Wende, nicht nur des Jahrhunderts, sondern auch der Kunstauffassung. Die deutsche Frühromantik entdeckt wieder die Schönheit und Grösse der Vergangenheit, sie entdeckt die Schönheit der alten gotischen Dome, der alten Volksmärchen und Sagen, und sie entdeckt auch wieder die Schönheit der alten Musik. Man beginnt, für Palestrina zu schwärmen, noch mehr aber für Bach, den Beethoven den "Urvater der Harmonie" genannt hat. Man beginnt seine Werke herauszugeben: Das Wohltemperierte Klavier, die Inventionen, die Orgelwerke u.a. Aber noch hat Bach keinen direkten Einfluss auf das Schaffen der Komponisten. Haydn besass ein Exemplar der h-moll Messe, aber nichts in seinem Stil deutet darauf, dass er das Werk wirklich gekannt hätte. Bei Mozart finden sich erst in seinen letzten Werken Spuren davon, z.B. im Finale der Jupiter-Symphonie und im Requiem; Beethoven hat das Wohltemperierte Klavier studiert und gekannt, er hat auch als Schüler Fugen geschrieben, aber in seinem Stil finden sich bis auf seine letzten Werke keine erkennbaren Einflüsse von Bachs Stil. Es gab kein Cembalo und kein Clavichord mehr, und die Orgelmusik war zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Wie sollte man da einen Zugang zu Bach finden? Und wie ihn spielen? Da standen sich zwei Auffassungen gegenüber. Die eine sagte: das ist "alte" Musik, ganz anders als unsere, die muss auch anders gespielt werden, ohne den Ausdruck der in der modernen Musik das wichtigste war. So urteilte z.B. Goethe, als er sich in seinem Alter aus dem Wohltemperierten Klavier vorspielen liess. Er sprach da die berühmt gewordenen Worte: "Es war, als ob die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, so wie es sich kurz vor der Weltschöpfung in Gottes Busen möchte zugetragen haben". Goethe distanziert damit die Musik Bach sehr deutlich von der Musik Mozarts oder Beethovens. Diese ist nach der Weltschöpfung entstanden, sie ist menschlich, sie spricht die Sprache Herzens, der Seele, - Bach: das ist Musik, die vor dem liegt, sie ist gross, kosmisch, aber nicht human.

Dann aber setzten sich immer mehr die Bemühungen durch, Bach für die Gegenwart zu gewinnen, ihn in die Gegenwart zu projizieren. Da sind zwei Ereignisse zu nennen, die epochemachend gewirkt haben: 1) die berühmte erste Wiederaufführung der Matthäuspassion in Berlin im Jahr 1829 (100 Jahre nach ihrer ersten Aufführung), 2) die Ausgabe der Klavierwerke Bachs durch Czerny.

In den Jahrzehnten vor und nach 1800 befand sich die protestantische Kirche in einem Stadium des Verfalls, der auch die Kirchenmusik mit sich zog. Und nun hörte man bei dieser Aufführung mit einem Male ein Werk von tiefer religiöser Kraft, und man war erschüttert. Freilich hatte man die Matthäus-Passion rücksichtslos modernisiert: z.B. wurden die meisten Arien weggelassen; heute würde diese Aufführung eine vernichtende Kritik erleben! Aber von da ging die Wiederbelebung der Bachschen Kirchenmusik aus, die einen immer grösseren Einfluss auf das Musikleben des 19. Jahrhunderts genommen hat. Und nicht nur das Musikleben, auch die Komponisten wurden davon beeinflusst: Mendelssohn mit seinem Oratorium "Elias", das heute weit unterschätzt wird, Brahms mit dem "Deutschen Requiem" usw..

Ein anderes Ereignis war die Herausgabe sämtlicher Klavierwerke Bachs mit genauen Bezeichnungen des Tempos, der Dynamik, der Phrasierung, des Fingersatzes durch den berühmtesten Klavierlehrer seiner Zeit, durch Karl Czerny. Czerny war viel mehr als ein geistloser Etüdenschreiber, wie heute Viele meinen; er war Schüler von Beethoven gewesen, und er schrieb im Vorwort zu seiner Ausgabe, er habe viele Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier selbst von Beethoven gehört, der sie ihm vorgespielt habe, und danach habe er seine Ausgabe gerichtet. Kann es etwas Grösseres geben als Bach, durch Beethoven interpretiert? Vielleicht nicht, - aber diese Wiedergabe war viel mehr Beethoven als Bach. Beethoven - und durch ihn Czerny - legte in die Musik den Ausdruck seiner eigenen Musik hinein. So gab es in der Ausgabe von Czerny Schlüsse im pp nach einem ff vorher, oder lange Steigerungen, wie in Beethovens Werken, es gab Sforzati wie in den Sonaten Beethovens, es gab die c moll Fuge aus dem W. Kl. in einem durchgehenden staccato und pp wie in den Scherzosätzen der Symphonien Beethovens. Der Erfolg und der Einfluss dieser Ausgabe auf alle Ausgaben des 19, Jahrhunderts war ungeheuer gross: nun war einem Bach wirklich so nahe gebracht wie Beethoven nahe war, nur dass eben Beethoven doch noch schöner war als Bach, der hauptsächlich als ein Studienmaterial verwendet wurde: Ein anderes wichtiges Ereignis war die Herausgabe aller Werke Bachs in der sogenannten grossen Bachausgabe, im Urtext, ohne Zusätze, ohne Aussetzung des Generalbasses, eine wahrhaft monumentale Ausgabe, die aber nur in etwa 500 Exemplaren gedruckt wurde - grösser war der Absatz nicht. Nun lernte man erst den ganzen Bach kennen, ohne verfälschende Zusätze. Und nun nahm sich auch die Musikwissenschaft der Aufgabe an, das Werk Bachs aus dem Stil und Geist seiner eigenen Zeit zu verstehen. Man lernte wieder Generalbass spielen, was um 1900 fast kein Musiker mehr konnte, (was aber heute jeder Musikstudent lernen muss), man interessierte sich wieder für die alten Instrumente Clavichord und Cembalo, man baute wieder Orgeln, die dem Klang einer Bach Orgel nahekamen, man ging von der Riesenbesetzung der Chöre bei der Aufführung der Matthäuspassion wieder zu kleinerer Besetzung zurück, man baute wieder alte Instrumente: Bach-Trompeten u.a., kurz, man näherte sich im Stil der Aufführung immer mehr der Zeit Bachs. Noch wichtiger aber war, dass man auch in der Wiedergabe die Modernisierung mehr und mehr aufgab. Ein Künstler, der gewiss kein Stubengelehrter war, Eugen d' Albert, sagte in seiner Vorrede zu seiner Ausgabe des W.Kl.: Man solle diese Musik "nicht mit einer Chopinschen sauce piquante übergiessen". Das war deutlich, aber auch nötig. Denn mit der zunehmenden Verfeinerung aller Ausdrucksmittel im spätromantischen Stil hatte sich auch das Bachspiel immer mehr verfeinert. Ich habe als Schüler von Max Reger manche Präludien und Fugen des W.Kl. von ihm gehört. Er spielte sie mit differenziertestem Ausdruck, unnachahmlich schön, - aber es war eben mehr Reger als Bach. Und die Herausgeber der Bachschen Klavierwerke hatten um 1900 auch die Vortragsbezeichnungen immer mehr verfeinert, das ganze Notenbild war oft mit Phrasierungsbogen so überspannt, dass man kaum die Noten noch sah!

So setzte nun nach 1900 eine Gegenbewegung ein, erst schwach, dann allmählich stärker: die Forderung von Urtextausgaben. Es war ja vorher nicht zu unterscheiden, ob ein legato-Bogen von Bach oder vom Herausgeber stammte; in der Regel, das wusste man, war alles vom Herausgeber. Aber nun wollte der Spieler auch einmal selbst entscheiden, wie er diese Musik spielen sollte. Die bezeichneten Ausgaben hatten ihm - und besonders auch den Musiklehrern - alles Denken abgenommen: man brauchte nur zu spielen, was dastand. Aber nun musste man sich selbst besinnen.

Bei einer Urtextausgabe muss man selbst entscheiden, und das ist schwer. Ich empfehle Ihnen daher, aus einer Urtextausgabe zu spielen, aber daneben die geistvolle und vorzügliche Studienausgabe von Busoni zu benützen und zu studieren.

Und auf welchem Instrument? Bach und seine Zeit hätten über eine solche Frage gelächelt: man nahm das Instrument, das man besass. Manche Stücke klingen am besten auf dem Clavichord, manche auf dem Cembalo, andere besser auf unserem Klavier, wieder andere auf der Orgel. Das ist keine so wichtige Frage, wie heute viele Musiker meinen. Wichtiger ist, wie man auf diesen Instrumenten spielt. 99 Prozent aller Spieler benutzen das moderne Klavier. Man kann auch auf ihm Bach im richtigen Stil spielen. Alles hängt vom Tempo, von der Dynamik, von der richtigen Phrasierung und einer sinngemässen Artikulation ab.

Tempo: darüber haben wir ja ausführlich gesprochen. Lieber etwas zu langsam als zu schnell. Das ist auch die Meinung von Albert Schweitzer.
Dynamik: einheitlich bei kleineren Stücken (etwa W. Kl.), bei grösseren: Terrassen-Dynamik. Aber natürlich nicht starr, sondern beseelt.
Phrasierung: da leicht absetzen, wo ein Sänger atmen würde, oder wo ein Geiger einen Bogenwechsel machen würde.
Artikulation: binden, wo eine innere seelische Bindung da ist, absetzen bei mittleren Intervallen, staccato bei Sprüngen. Aber auch das ist nur eine Regel, die viele Ausnahmen zulässt.
Ich will das an einem Beispiel zeigen, das aus Zeitmangel in den letzten Vorlesungen nicht zum Vortrag gebracht werden konnte, an der Fantasie in c moll. Sie ist 1738 komponiert, also zur Zeit der höchsten Meisterschaft Bachs, aber wenig bekannt und wenig gespielt.

[Spiel]

Und nun zum Abschluss noch zwei Orgelstücke von Bach: die
Fantasie in g moll und das Pastorale in F dur.
Auch hier darf ich Sie bitten, keine Konzertmasstäbe an mein
Spiel anzulegen. Ich habe seit 10 Jahren nicht mehr öffentlich Orgel gespielt - es soll nicht mehr sein als die Illustration eines Vortrags.
Die g moll Fantasie ist - wie schon gesagt - ein Seitenstück zur Chromatischen Fantasie, ebenso kühn in der Harmonik wie diese. Sie ist eine Toccata mit zwei eingestreuten kleinen fugierten Teilen. Der Ausdruck ist Grösse und Leidenschaft.
Alles, was ich über Tempo, Phrasierung, Artikulation gesagt habe, gilt auch hier. Aber an die Stelle von Dynamik tritt bei der Orgel die Farbe. Die Registrierung ist das wichtigste. Bach kannte den ff-Klang unserer heutigen Orgeln noch nicht, daher möchte ich ihn auch vermeiden, sondern die Register wählen, die Bach damals gehabt hat.

[Spiel]

Das Pastorale. Im 17. Jahrhundert zogen in Italien die Hirten aus dem Gebirge in der Zeit vor Weihnachten nach Rom, und bliesen ihre Schalmeien vor den Altären der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes. Daraus schöpften die Komponisten die Anregungen für pastorale Kompositionen, am berühmtesten ist das Pastorale von Corelli in seinem 8. Concerto grosso. Ebenso ruhig, einfach und schön ist Bachs Pastorale für die Orgel.

[Spiel]

Meine Damen und Herren, besonders liebe Schüler und Schülerinnen der Musashino-Akademie!
Ich schliesse nun meine Vorlesungen. Ich scheide von Japan mit dem Gefühl tiefen Dankes für all das Schöne, das ich hier sehen und hören durfte, für all das Wohlwollen und die Sympathie, die mir hier entgegengebracht wurde. Mein Dank gilt ganz besonders Direktor Fukui, der alles getan hat, um meinen Aufenthalt hier zu einem Erlebnis zu machen, er gilt auch meinen treuen drei Helfern, den Herren Fukui junior, Furusho und Igida, die meine Arbeit so trefflich unterstützt haben und mir liebe Begleiter geworden sind, den Spielern und allen andern Menschen, denen ich näher treten durfte. Meine besten Wünsche gelten Ihnen - der heranwachsenden musikalischen Jugend Japans - und der Musashino-Akademie, die alles tut, um Sie für Ihren Beruf so gut wie möglich vorzubereiten.

Nochmals: Dank und auf Wiedersehen! in Europa oder hier!


Quelle:
Schreibmaschinen-Manuskript (auf Briefpapier Musashino College)