1962 · Vieni Amore ...

Neue Zeitschrift für Musik

Über die Righini-Variationen von Beethoven

Man sollte meinen, daß über die Werke Beethovens, ihren höheren oder geringeren Rang, seit einigen Menschenaltern ein "consensus omnium", eine Übereinstimmung aller Urteilsfähigen bestehe, so etwa, daß jeder weiß, daß die dritte Symphonie bedeutender ist als die zweite, daß die Sonate D-Dur op. 10 Nr. 3 mehr ist als die F-Dur op. 10 Nr. 2. Aber selbst auf diesem so gründlich abgegrasten Feld ist noch eine Entdeckung zu machen. Sie betrifft die 24 Variationen über die Ariette "Vieni Amore" von V. Righini (ohne Opus-Zahl). Ich wollte diesem Aufsatz zuerst die Überschrift geben "Ein unbekanntes Meisterwerk Beethovens", hatte aber doch den Mut nicht, denn die Variationen stehen ja in jeder Ausgabe der Klaviervariationen Beethovens, nur daß sie ein Meisterwerk sind, scheint man bis jetzt nicht gemerkt zu haben, denn in keinem der mir bekannten Werke über Beethoven sind sie anders als nur beiläufig und nebenher erwähnt, und gespielt werden sie so gut wie gar nicht (ich habe sie in Jahrzehnten einmal auf einem Konzertprogramm gefunden). Wenn ich nun also eine Liebeserklärung an dieses reizende, geistreiche, verkannte Werk richte, so muß ich zuerst darlegen, woraus diese unbegreifliche Unterschätzung entstanden ist.

Die erste Fassung der Variationen kam schon im Februar 1791 heraus, aber weder die Eigenschrift Beethovens noch ein einziges Exemplar der gedruckten Ausgabe ist erhalten geblieben (während sonst alle in Bonn komponierten und im Druck erschienenen Werke des jungen Beethoven auf uns gekommen sind). Mehr wissen wir nur durch Berichte von Wegeier und Simrock. Im Herbst 1791 reiste der Kurfürst mit großem Gefolge von Bonn zu einer Festwoche des Deutsch-Ritter-Ordens nach Mergentheim. Das Orchester fuhr bei schönem Wetter und in heiterster Stimmung in zwei Schiffen stromaufwärts bis Mainz, dann den Main hinauf bis Aschaffenburg. Dort lernte Beethoven den berühmten Klavierspieler und Komponisten Abbe Franz Xaver Sterkel kennen, der sich bereit erklärte, den Bonner Musikern vorzuspielen. "Er spielte sehr leicht, höchst gefällig und, wie Vater Ries sich ausdrückte, etwas damenartig." Hierauf bat Sterkel Beethoven, seine jüngst erschienenen Variationen zu spielen und gestand, sie seien ihm zu schwer. Er bezweifelte, ob Beethoven selbst sie spielen könne, suchte die Noten, konnte sie aber nicht finden, und nach einigem Zögern war Beethoven bereit, sie auswendig vorzutragen. "Er setzte sich und spielte sie zum Erstaunen der gegenwärtigen Bonner, die ihn noch nie so gehört hatten, ganz in der Manier des Herrn Capellmeisters mit der größten Zier und brillanten Leichtigkeit, als seien diese schweren Variationen wirklich ebenso leicht wie eine Sterkelsche Sonate, und hängte hieran noch ein paar ganz neue. Herr Capellmeister war in seinem Lobe unerschöpflich und verlangte durchaus, daß wir bei der Rückkehr ihn wieder besuchen möchten - was aber der Eile wegen nicht geschah."

Schon dieser Bericht müßte uns neugierig machen und bedauern lassen, daß diese Fassung verloren ist.

Nun gab Beethoven das Werk im Jahr 1802 neu heraus. Er mochte bei den Arbeiten an den Variationen op. 34 (F-Dur) und den Eroica-Variationen op. 35 Lust bekommen haben, sein altes Glanzstück noch einmal hervorzuholen und es auf den Stand zu bringen, den er als Komponist mit seinen Sonaten op. 27, 28 und 31 erreicht hatte. Leider wissen wir gar nicht, welche Nummern der alten Fassung er übernahm, ob die in Aschaffenburg improvisierten hier ihre schriftliche Fixierung erhalten haben, ob und welche ganz neu komponiert wurden? Diese Frage soll hier erörtert werden - gelöst werden kann sie aus Mangel an positiven Unterlagen nicht.

Betrachten wir zunächst das Thema und seinen Urheber, Vincenzo Righini, der, 1756 in Bologna geboren, von 1786 bis 1792 im Dienste des Kurfürsten von Mainz stand, dann von Friedrich Wilhelm II. als Hofkapellmeister nach Berlin geholt wurde. Als nach 1806 die Oper erlag, ging Righini 1812 in seine Heimat zurück, wo er bald darauf starb. 1790 erschienen von ihm in Mainz "12 Ariette italiane", in denen auch unser Thema enthalten ist, über das Righini, der auch Sänger war, später selbst Variationen gesetzt hat. Der Text der ersten Strophe heißt:

Venni, Amore, nel tuo regno,
ma compagno del timor,
m' avean detto, che lo sdegno
s' incontrava ed il rigor.

Also nicht, wie von der ersten Ausgabe an bis heute zu lesen ist: "Vieni" ("Komm, Liebe"), sondern "Venni", d.h.: "Ich kam, Amor, in dein Reich."

Die nächsten drei Zeilen besagen in einer sehr geschraubten Sprache: "aber, wurde mir gesagt, Verachtung (sc. der Liebe!) und Kälte als Begleiter der Furcht herrschen dort." Die nächsten Strophen verscheuchen diese trüben Gedanken:

Dolce sguardo, dolce riso,
nobil cor, gentil virt ,
bella mano, bei seno, bei riso
fan bramar' la servit !

Gran sospiri, gran tormento
costa, è vero, il tuo gioir!
ma poi vale quest' momento
mille giorni di martir!

(Viele Seufzer, große Qualen kosten wahrlich deine Freuden! Aber dann wiegt jener Augenblick tausend Tage der Qual auf!)

Beethoven hat in seinem Thema in Takt 1 - 8 die Klavierbegleitung Righinis übernommen (daher fehlt die zweite Silbe von "regno"), im zweiten Teil hat er Singstimme und Begleitung zusammengezogen. Die Wiederholung beider Hälften ist dem Text nach sinnwidrig, aber Beethoven interessierte der Text nicht. Ist das Thema bedeutend? Nein, aber reizend und schelmisch, und besonders reizend und für Beethoven in jeder Beziehung ungewöhnlich sind die Variationen. Nicht nur weil sie Beethoven von einer ganz anderen Seite zeigen, als ihn die Musikgeschichte abgestempelt hat, sondern auch weil ihre Anlage durchaus ungewöhnlich ist: keine wohlbedachte Steigerung vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplizierten, sondern ein bunter Wechsel, wie ihn nur Laune und Übermut einem Komponisten eingeben kann.

Ich lade den Leser ein, das Werk, das er ja zweifellos besitzt, neben sich zu legen, und mit mir einen Gang durch diese wahrhaft zur Gemütsergötzung geschriebenen Variationen zu machen.

Nach dem leichtgeschürzten Thema gibt sich die 1. Var. züchtig, dicht verhüllt in einen vierstimmigen Satz, aber gleich die zweite läßt alle Geister des Übermuts los: ein bockiger Rhythmus und ein spaßhafter Wechsel von p und f sind ihre Kennzeichen. In der 3. Var. läuft eine Tonleiter elegant über 3 Oktaven durch das Thema hindurch; in der 4. Var. ist es von einem Triller-Orgelpunkt zugedeckt, wie wir ihn sonst erst von der Waldstein-Sonate ab finden; in Var. 5 deuten die triolischen Oktaven, die sich ähnlich in der A-Dur-Sonate op. 2, Nr. 2, aber in späteren Werken nicht mehr finden, auf eine frühe Entstehung. Var. 6 ist ein pastorales Sextett von Klarinetten, Fagotten und Hörnern, dann aber spannt Beethoven in Var. 7 den Rhythmus an, und erhöht diese Spannung durch kühne Engführungen. Var. 8 bildet das Thema in eine schmeichelnde, gebundene Melodie um, aber Var. 9!, chromatische Terzenläufe in beiden Händen, wie sie Beethoven nicht einmal in seinen Klavierkonzerten geschrieben hat; immer wenn ein Lauf glücklich gelungen ist, folgen zwei Akkordschläge, wie ein dröhnendes Ha-Ha. In Var. 10 sind wir besänftigt: leicht wiegende Achtel, ein zarter Hornton, der Schluß pizzikato. Var. 11: eine fröhliche ländliche Blasmusik. Nun genau in der Mitte des Werks, zwei Moll-Var., eine zart elegische ("fast zu ernst"), mit abgebrochenen Seufzern, und eine in unmutigen Oktaven polternde, als Gegenstück dazu. Ganz allerliebst ist Var. 14, eine Doppelvariation: dem spöttischen Staccato des Basses antwortet schmachtend der Sopran, in dieser Gegenüberstellung möge der Humor als tragendes Element nicht übersehen werden! Das hat Beethoven Spaß gemacht, und nun legt er eine virtuose Var. (Nr. 15) hin, die sich gewaschen hat. Triolenläufe und Oktavenstöße. Nr. 16 sieht auf dem Papier ganz manierlich aus, hat es aber, mit den verschobenen Bässen und den verschiedenen Oktavebenen, in sich. Und nun kommt mit Var. 17 die allerzarteste, die Beethoven je geschrieben hat; Schumann hätte das nicht schöner machen können. Die zur Ruhe gekommene Bewegung hebt in der nächsten (Nr. 18) zart wieder an: in die triolische Bewegung klingen Elfentrompeten herein in Oktaven, und diese Oktaven behalten in der nächsten Var. (Nr. 19), eine der technisch schwersten, das Feld. Auch ein derartiger imitatorischer zweistimmiger Satz, in Oktaven beider Hände, findet sich beim späteren Beethoven nur selten, beim frühen nie. Daß ihm das gelungen ist, freut ihn, und nun folgt eine Var. von geradezu spitzbübischem Humor (Nr. 20): 2 Hörner und eine Piccoloflöte machen sich über uns lustig. Nun wieder ernst, geradezu Brahmsisch hebt Var. 21 an, vergleiche Var. 9 der Händel-Variationen von Brahms. Einen unscheinbaren Eindruck macht Nr. 22, man sehe aber die aus 1 + 3 und 3 + 1 Sechzehntel gebildete Begleitung. Der Sitte nach steht die Adagio-Var. (Nr. 23) an vorletzter Stelle. Sie gibt sich orchestral, fast wie eine kleine Opernszene; im zweiten Teil hören wir ein Duett der Sopranistin mit dem Bariton. Und dann: mit einem kühnen Lauf, auf ins Finale!

Etwas Derartiges hat Beethoven überhaupt nie mehr geschrieben! Man weiß, daß er in den zahlreichen Variationswerken seiner Jugendjahre, denen er mit Recht keine Opus-Zahl gegönnt hat (wie den Righini-Variationen mit Unrecht, sie müßten die Opus-Zahl 35a tragen!), nach oft belanglosen Variationen in der letzten anfängt zu fantasieren, und daß da erstaunliche Dinge dabei herauskommen, um derentwillen man versucht wäre, das Ganze zu spielen. Die letzte Righini-Variation aber läßt sich zunächst ganz manierlich an, enttäuscht sogar nach allen vorangegangenen Leckerbissen, aber dann, mit dem pp getupften d3 fängt Beethoven an, zu fantasieren, und zwar ganz anders als in seinen Jugendwerken: das d3 wird zunächst nach B-Dur, dann nach G-Dur gedeutet, dann über As-Dur und eis-Moll der Weg zur Stretta beschritten. In ihr tritt das Thema (Assai presto) zuerst fast brutal ff und mit Sechzehnteln auf, dann dim. e rit. - in Achteln, in Vierteln, in Halben und die Sechzehntelbewegung wird schließlich in Doppeltakte augmentiert. Und so schließt das Werk zur Verblüffung der Zuhörer (und daher gänzlich konzert-unwirksam) Adagio und im äußersten pp! Das ist ein Schluß, wie er sich in der Klassik nirgends findet und selbst bei den Romantikern selten; ich wüßte nur eine Parallele zu nennen: den Schluß der Papillons von Schumann. Bedeutet diese letzte Verflüchtigung bei Beethoven nur Laune (Aschaffenburg?) oder ist es schon ein Hauch von Frühromantik?

Wie gerne wüßten wir, was von diesen 24 Var., die so wie sie dastehen, wie aus einem Guß geformt zu sein scheinen, schon 1790 komponiert war, was 1801 neu komponiert wurde, und was lediglich durch kleinere oder größere Umarbeitungen, aus der alten Fassung übernommen wurde. Der Leser möge sich selbst daran versuchen, meine Aufgabe war nur, die Freunde der Musik auf dieses, viel zu wenig bekannte, ja verkannte Werk aufmerksam zu machen.

Wieviel könnte ein Spieler, der ihre Poesie und ihren Reiz erspürt hat, aus ihnen machen! Sie sind so, wie sie uns überkommen sind, wahrlich nicht ein Bonner Jugendwerk neben den vielen anderen, die man mit Recht nicht mehr spielt, sondern sie gehören unter die Werke ersten Ranges, die Beethoven in seiner glücklichsten und fruchtbarsten Zeit zwischen 1800 und 1802 schrieb. Wenn auch nur einige Leser dieser Zeitschrift sie daraufhin einmal vornehmen und lieb gewinnen, ist der Zweck dieser Zeilen erreicht.

Quelle:
Neue Zeitschrift für Musik, Januar/Februar 1962
Schott Music, Mainz