1964 · Die Kultur des Barock

und die evangelische Kirchenmusik

Es soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, die Kultur des Barock schärfer zu umreißen, als wir es gemeinhin zu tun pflegen, und die Frage zu stellen, wie weit die Kirchenmusik der Generalbaßzeit von ihr abhängig ist und ihre Züge trägt; von da aus kommen wir zu der Frage, was die in dieser Epoche geschaffene Musik uns heute noch bedeuten kann, genauer gesagt, ob die von ihr ausgehenden Kräfte, von denen wir vier Jahrzehnte lang gelebt haben, sich nicht erschöpft haben. Es mag vermessen erscheinen, solche Fragen zu stellen, die eine ganze Anzahl von Einzeluntersuchungen voraussetzen und bei denen die Gefahr besteht, in unzulässiger Weise zu verallgemeinern. Der Verfasser ist sich dieser Gefahr bewußt, aber er hat das Gefühl, daß wir dieses Zeitalter so gründlich durchforscht haben, daß es bald als "Vorrat" erschöpft sein dürfte und daß dieser Vorrat für die Kirchenmusik vielleicht nur zu einem kleinen Teil einen "ewigen Vorrat" darstellt; er möchte daher hier einige grundsätzliche Gedanken aussprechen, die wohl sonst in einer Fachzeitschrift nicht Platz finden würden.

Die Kultur des Barock, die in allen Ländern Europas allen Gebieten des Lebens ihren Stempel aufgedrückt hat, ist hier verstanden als die Folge des Auseinanderbrechens der abendländischen Kirche. Nicht die Renaissance hat die Welt umgestaltet, sondern die Reformation. Es war der Kirche im Mittelalter gelungen, die Häresie der Waldenser, Albigenser, Katharer und Templer zu unterdrücken, aber schon bei Johann Hus gelang es ihr nicht mehr, und als Männer wie Martin Luther, Thomas Müntzer, Johann Calvin und andere auftraten, da brach das an vielen Stellen morsch gewordene Gebäude auseinander. Die Teile wurden geflickt, das Ganze war nicht mehr wieder herzustellen. Ungeheure Kräfte wurden dabei frei, von denen die lutherische und die reformierte Kirche noch heute lebt. In die verlassenen Positionen drängten die Landesherrn ein, in deren Händen weltliche und kirchliche Macht vereint war. Damit war die Suprematie der weltlichen Macht über die geistliche besiegelt, und damit, nicht mit irgendwelchen kunstgeschichtlich zu fassenden Stilprinzipien, beginnt das Barock. Den Auftriebskräften der neuen Kirchen stehen Verfallerscheinungen gegenüber, die sich mindestens ebenso stark auswirkten. Die Staatsmoral sinkt zur Staatsraison herab. Der unsinnigste aller Kriege, der Dreißigjährige Krieg, wird aus Staatsraison begonnen und, als die Feuer niedergebrannt waren, nach Grundsätzen der Staatsraison beendet. Das Leben jedes Einzelnen, ob er oben oder unten auf der sozialen Stufenleiter steht, ist strengster Etikette unterworfen. Die bildenden Künste (außer der Architektur) werden zweitrangig, die Literatur wird servil, verliert ihre Würde, wird schwülstig, nur Baukunst und Musik als die beiden Künste, die am meisten geeignet sind, zur Verherrlichung des Fürsten beizutragen, erleben eine Zeit der Blüte. Bei beiden zeigt sich die eingetretene Abhängigkeit der geistlichen von der weltlichen Kultur besonders deutlich: die Kirchen sind geistliche Paläste, der Schloßbau wird bestimmend für den Kirchenbau, und in der Musik wird Serenissimo als dem von Gottes Gnaden eingesetzten Herrscher äußerlich nicht anders gehuldigt als Gott selbst: bei Bach mit den obligaten drei Trompeten und Pauken.

Man darf billigerweise bezweifeln, ob diese Kultur die Grundlage für eine Blüte der Kirchenmusik abgeben konnte. Der tiefe Einschnitt, den der Beginn des Barock auch für die Geschichte der Musik bedeutet, ist besonders durch zweierlei gekennzeichnet: durch die Entstehung einer Instrumentalmusik mit eigenen Formen und eigenem Inhalt (absolute Musik) und durch die Ablösung des Chorstils durch die Einzelstimme. Nicht nur die Kirche, auch die Musik bricht im 16. Jahrhundert auseinander. Die Instrumentalmusik geht von nun an ihre eigenen Wege, eine Orgelfuge von Bach kann wohl in einer Kirche erklingen, ist aber keine Kirchenmusik mehr. Noch folgenschwerer war für die Kirchenmusik die Zulassung und schließlich (in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) der Vorrang der Einzelstimme. Auch hier war die weltliche Musik führend, die geistliche folgte. Im frühen monodischen Stil der ersten Opern ist die Einzelstimme auf ein edles, einfaches Rezitativ beschränkt. Wenn wir Schütz hören oder singen, erleben wir noch diese Höhe, diesen Adel, von dem die Oper und in ihrem Gefolge die Kirchenmusik bald heruntersinkt. In den Spätwerken von Monteverdi ist diese Haltung teilweise schon aufgegeben, dann aber, um 1700, sinkt die Oper tief ab und übernimmt für die oberen Schichten der Gesellschaft etwa die Rolle, die heute das Kino für die unteren einnimmt (wobei wir uns bewußt sein wollen, daß die unteren Schichten weit nach oben reichen). Ihren höchsten Triumph erlebt die Einzelstimme in der Koloratur-Arie des frühen 18. Jahrhunderts. Sie ist wohl von dem, was man von "religio" ableiten kann, am weitesten entfernt, aber auch sie dringt in die Kirchenmusik ein; auch Bach ist gezwungen, sich ihrer zu bedienen. Freilich stirbt die Kirchenmusik nach kurzer Zeit an diesem Gift. So müßte ein Urteil über die Kirchenmusik der Generalbaßzeit vernichtend ausfallen, wenn sie nicht noch von andern Kräften gespeist würde: vom Choral der Reformationszeit und von der aus der Vokalmusik übernommenen und weiter ausgebauten Polyphonie. Der Eindruck den die Passionen und Kantaten Bachs auf einen unbefangenen, aber urteilsfähigen Hörer machen, ist daher durchaus zwiespältig: die großen, polyphonen Chorsätze und die schlichten Choralsätze ergreifen ihn unmittelbar, die Arien läßt er (mit wenigen Ausnahmen) eben über sich ergehen und wäre dankbar, wenn ihm der Dirigent das Da Capo erlassen würde (aber aus Gründen der formalen Proportion wird ihm das zumeist nicht zuteil).

Wir dürfen aber bei solchen Erwägungen nicht nur an die großen Meister denken, deren Genialität uns über manche Fragwürdigkeit des Stils hinwegträgt, sondern an die Vielzahl der kleineren Begabungen, an denen in Baukunst und Musik das Barock so reich ist. Durch die Einführung der Technik, den bezifferten Baß zur Grundlage jeder Musik zu machen (Klavier und Orgel ausgenommen), wurde mit einem Mal das Komponieren leicht gemacht. Um eine vier-bis fünfstimmige Motette zu schreiben, mußte man mehrere Jahre lang Kontrapunkt studiert haben, für die Ausführung eines bezifferten Basses genügte eine Unterweisung von wenigen Monaten. So kommt es, daß in keiner Periode, auch nicht im 19. Jahrhundert, soviel durchschnittliche und mittelmäßige Musik geschrieben worden ist wie im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Übergang vom polyphonen zum homophonen Stil um 1600 bedeutete zunächst einen tiefen Absturz der Musik. Freilich, da nur wenig gedruckt werden konnte, beanspruchte diese Musik auch kein längeres Leben als für den Anlaß, für den sie geschrieben wurde. Wir Heutigen sind in unseren Neuausgaben und Aufführungen von Musik aus dieser Zeit sehr nachsichtig, ja oft kritiklos verfahren, obwohl gerade in der Kirchenmusik doch noch.strengere Maßstäbe angelegt werden müßten als in der Haus- und Kammermusik. Ich denke da etwa an die Solokantaten von Buxtehude, deren Gehalt so gering und so dünn ausgewalzt ist, die wir aber in Denkmälerbänden im Notenschrank stehen haben. Wir sind dem Barock gegenüber ebenso nachsichtig gewesen wie dem 19. Jahrhundert gegenüber streng. Es gibt vielleicht heute immer noch Kirchenmusiker, die eine Kantate von Buxtehude oder einem seiner Zeitgenossen hochhalten und schätzen, aber dem Deutschen Requiem von Brahms gegenüber höchstens eine gönnerhaft herablassende Haltung einnehmen. Noch in meiner Jugend - um 1900 - wurde das Wort "Barock" fast stets abschätzig, abwertend gebraucht; in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurde es hoch aufgewertet, - allzu hoch. Es sind Anzeichen da, daß wir uns von dieser Überschätzung und kritiklosen Anbetung des Barock abkehren.

Aber wohin? Da möchte ich das berühmte Wort von Verdi anführen, der bei den Reformplänen für den Musikunterricht in Italien gesagt hat: "Ritornamo al antico, sarà un progresso" ("Kehren wir zu dem Alten zurück, es wird ein Fortschritt sein"). Verdi meinte die Abkehr von der flachen italienischen Musik des 19. Jahrhunderts; hier ist der Rückgriff auf die Musik der klassischen Vokal-Polyphonie gemeint. Auch da gibt es neben der Musik der großen Meister vieles durchschnittliche, aber wenn eine Generalbaß-Arie eines kleinen Meisters in der Kirche unerträglich sein kann, so steht die Motette oder Messe eines der vielen kleineren Meister des 15. und 16. Jahrhunderts als Gattung und Handwerk immer noch so hoch, daß man sie gelten lassen kann. Diese Werke sind seit langem in mustergültigen Ausgaben vorhanden (z. B. "Das Chorwerk"), aber wie selten erklingt etwas davon in unseren Kirchenmusiken und Gottesdiensten! In größeren Städten ist die lateinische Sprache kein Hindernis, etwa ein Kyrie, Sanctus oder Agnus Dei aufzuführen, und wie groß ist der Vorrat an deutschen motettischen Sätzen seit der Reformation! In diesen Sätzen tritt keine Stimme hervor, jede ordnet sich einem höheren Gesetz unter und kann sich doch in dem ihr zugemessenen Raum frei bewegen. So ist ein schlichter oder kunstvoller motettischer Satz in Wahrheit ein Idealfall von Kirchenmusik. Der Chor ist in Lob und Anbetung idealer Stellvertreter für die Gemeinde. (Das bedeutet nicht, daß ein bestimmter Stil, etwa der sogenannte Palestrinastil, Alleingeltung haben soll). Der Einzelgesang ist der Auslegung des Evangeliums durch den Prediger vergleichbar, und wie zeit- und persönlichkeitsgebunden ist diese notgedrungenerweise! Die wahre Kirchenmusik wohnt ein Stockwerk höher.

Ich bin auf viele Einwände gefaßt, möchte aber den nächstliegenden doch gleich ausschließen: ich rede keiner Verengung der Kirchenmusik das Wort. Ich wollte darlegen, daß die Kirchenmusik durch ihre Abhängigkeit von der Kultur des Barock ebenso herabgezogen worden ist wie der Kirchenbau, wenn man nämlich eine Kirche nicht als einen kunstgeschichtlich zu wertenden Bau, eine Kirchenmusik nicht nach ihrem rein musikalischen Wert beurteilt, sondern nach den inneren Kräften, von denen sie als Sakralkunst getragen wird. Ferner wollte ich zeigen, daß wir auch rein musikalisch vielfach in Kritiklosigkeit gegenüber der Durchschnittsmusik der Generalbaßzeit gelebt haben, und daß wir uns bewußt werden sollten, daß bei der Massenhaftigkeit, mit der wir alte Musik, d.h. Musik der Generalbaßzeit auffühfuhren, die Tragkraft dieser Epoche sich weithin erschöpft hat. Um aus dem Flachland der Durchschnittsmusik des Barock einen Weg in höhere Regionen zu finden, ist es nicht nötig, nur zurückzuschauen. Wir werden vielleicht auch zum 19. Jahrhundert ein neues Verhältnis bekommen, von dem wir heute schon so viel Abstand haben, wie die Generation um 1920 vom Barock, und bei der Musik unseres Jahrhunderts werden wir auch nicht fragen, welcher Technik sie sich bedient, sondern von welchen Geisteskräften sie getragen wird.

Quelle:
Musik und Kirche, Februar 1964