1965 · Zur Geschichte der Urtextausgaben

Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft

Was in den Direktionszimmern der großen Verlage besprochen, geplant und dann ausgeführt wird, liegt weit ab vom Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, und doch sind die Entscheidungen, die dort getroffen werden, oft von größerer Bedeutung als das, was im Konzertsaal geschieht, was die Konzertdirektionen anzeigen und die Zeitungen ausführlich kritisieren. Zu diesen Verlagsaufgaben gehört vor allem eine vorbildliche Ausgabe der klassischen Meisterwerke in einem untadeligen, fehlerfreien Text und zu erschwinglichem Preis. Alles hängt davon ab, wen der Verlag mit dieser Aufgabe betraut, welche Richtlinien er ihm gibt, welche Freiheiten er ihm läßt.

Davon soll im folgenden die Rede sein. Die Darstellung beschränkt sich auf die in der Edition Peters seit hundert Jahren erschienenen Urtextausgaben Bachscher Klavierwerke, also auf ein schmales Gebiet, dessen Behandlung aber doch ein allgemeines Interesse beanspruchen kann. Einer der drei Verlage, die zwischen 1800 und 1802 unabhängig voneinander das Wohltemperierte Klavier Johann Sebastian Bachs erstmals im Druck herausgaben, war Hoffmeister & Kühnel, Vorgänger des Verlagshauses Peters; die beiden anderen waren Simrock in Bonn und Nägeli in Zürich. Diese Ausgaben waren unbezeichnet; sie stützten sich ohne weitere Textkritik auf die Handschriften, die ihnen zugänglich waren. Es wurde damals schon eine Gesamtausgabe der Klavierwerke Bachs geplant, die aber über die ersten Anfänge nicht hinauskam. In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der Klavier spielenden Dilettanten sprunghaft an; sie waren mit dem Stil und der Aufführungspraxis des Bachzeitalters nicht mehr vertraut und konnten mit den um 1800 erschienenen Ausgaben nichts anfangen. So beschloß der Verlag Peters, eine bezeichnete Ausgabe aller Klavierwerke Bachs zu veranstalten, die Friedrich Konrad Griepenkerl, Friedrich August Roitzsch und Carl Czerny übertragen wurde. Griepenkerl (1782-1849), dessen Name für immer mit der von ihm besorgten Urtextausgabe der Bachschen Orgelwerke in der Edition Peters verbunden bleiben wird, und Roitzsch (1805-1889) waren hauptsächlich für die Richtigkeit des Notentextes verantwortlich, die Anweisung zum Vortrag gab der berühmteste Klavierpädagoge seiner Zeit, Carl Czerny (1791 1857). Seine Tempo- und dynamischen Bezeichnungen, seine Artikulations- und Vortragszeichen bestimmten auf Jahrzehnte hinaus das Bachbild der Klavierspieler, der Fachleute wie der Liebhaber. Die Ausgabe wurde 1837 begonnen, kam aber erst nach Jahrzehnten zum Abschluß. Czernys große Verdienste wie seine Sünden wider den Geist Bachs sollen hier nicht erörtert werden, zumal schon viel darüber geschrieben worden ist.

Nun geschah aber etwas Erstaunliches: 25 Jahre nach dem Erscheinen der Czernyschen Ausgabe, im Jahre 1862, legte der Verlag Peters eine Urtextausgabe des Wohltemperierten Klaviers vor und eröffnete mit ihr eine Reihe, die als Edition Peters weltbekannt wurde. Die Verlagsnummern Ia und Ib tragen die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers, die ein Schüler Franz Liszts, der Pianist Franz Kroll (1820-1877), besorgt hatte. Es war die erste wirkliche Urtextausgabe eines Bachschen Klavierwerks, nämlich eine auf den Vergleich der maßgebenden Handschriften sich gründende kritische Ausgabe des originalen Textes ohne jeden Zusatz als den von Fingersätzen, die in ihrer Eigenwilligkeit an manchen Stellen den Liszt-Schüler erkennen lassen. Es gehörte eine ordentliche Portion Mut und Idealismus dazu, eine für die breitesten Kreise bestimmte Sammlung klassischer Musikwerke mit einer so unpopulären Nummer 1 zu eröffnen. Ein Revisionsbericht war der Ausgabe nicht beigegeben, allein drei Jahre später, 1865, also gerade vor hundert Jahren, gab Kroll das Wohltemperierte Klavier im Rahmen der Ausgabe sämtlicher Werke Bachs durch die Bachgesellschaft heraus, und hier legte er seine Quellen dar: es waren nicht weniger als 19 Handschriften (von sehr ungleichem Wert) und neun Drucke, die er kritisch verglich, zu denen als zehnter seine eigene Ausgabe kam, die er in Einzelheiten noch verbessern konnte. Die 1850 gegründete Bachgesellschaft hatte in ihrer monumentalen Ausgabe schon im dritten Jahrgang Klavierwerke gebracht: die zwei- und dreistimmigen Inventionen und Sinfonien, die vier Teile der Klavierübung, bekanntlich das Einzige, was von Bach zu seinen Lebzeiten, von ihm herausgegeben, im Stich erschienen war, und noch, in einer etwas merkwürdigen Zusammenstellung, die Toccaten fis-Moll und c-Moll und die Fuge a-Moll BWV 944. Dieser Band hatte für die Inventionen Varianten der Lesarten angegeben, im übrigen aber auf einen Revisionsbericht verzichtet; Kroll gibt ihn im Anhang in gedrängter Kürze und dabei mit erstaunlicher Vollständigkeit; er umfaßt 65 Seiten für beide Teile des Wohltemperierten Klaviers; ein heutiger Herausgeber würde ein Vielfaches dieses Raumes nötig haben. In einigen Fällen fügte Kroll in der Edition Peters dem Notentext Varianten in kleinem Druck zu, was bei manchen Urtextausgaben unserer Zeit leider vermißt wird. In allen Fällen, in denen dem Herausgeber die Wahl zwischen zwei Lesarten schwer fällt, sollten beide mitgeteilt werden, und zwar im Text selbst, während belanglosere im Revisionsbericht angeführt werden können.

Die mutige Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers durch den Verlag und durch Kroll blieb lange Zeit ohne Nachfahren; die Entwicklung ging nach der entgegengesetzten Richtung. Die Verlage bemühten sich, ihre vorzugsweise für den Unterricht bestimmten Ausgaben immer weiter zu "vervollkommnen" und führten dabei immer weiter vom Text des Komponisten weg. Es seien dafür vier Beispiele genannt: Die Phrasierungsausgaben von Hugo Riemann, die Akademische Neuausgabe klassischer Werke durch Heinrich Germer, die Veränderung der originalen Bogenziehung, besonders bei Beethoven, durch Adolf Ruthardt, die Weglassung aller originalen Legatobögen durch Theodor Wiehmayer, - all das liegt hinter uns, war aber um die Jahrhundertwende im Vordergrund des Interesses. Freilich setzte gleichzeitig auch die notwendige Gegenbewegung ein: die Akademie der Künste in Berlin gab Urtextausgaben klassischer Werke heraus, nach denen aber nur wenige griffen; die Wiederbelebung der alten Instrumente Cembalo und Clavichord, das Studium der grundlegenden theoretischen Werke der Bachzeit, zum Beispiel Philipp Emanuel Bachs, Quantz', Matthesons und anderer, die rasch aufblühende Musikwissenschaft, alles zusammen gab der Zeit einen neuen, besseren Begriff vom Stil Bachs und seiner Zeit. Trotzdem dauerte es lange, bis die mit Kroll begonnene Reihe eine Fortsetzung fand: Im Jahr 1933, also 80 Jahre nach dem Wohltemperierten Klavier, gab der Verlag die Inventionen und Sinfonien in einer Ausgabe heraus, die noch heute unsere Bewunderung verdient: Das Notenheft enthält den Urtext, ein Anhang brachte fünf Nummern mit den von Bach später dazugesetzten Verzierungen, dazu kam ein Textband von nicht weniger als 104 Seiten mit dem Revisionsbericht, und schließlich war der Ausgabe ein Faksimile der Titelseite des Bachschen Autographs beigegeben. Der Herausgeber war Ludwig Landshoff (1874-1941), der sich als Wissenschaftler und praktischer Musiker eine genaue Kenntnis der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts angeeignet hatte. In seinem Revisionsbericht hat er wohl als erster ein Kriterium miteinbezogen, das in unserer Zeit besonders durch Georg von Dadelsen weiter ausgewertet wurde: aus Eigenheiten der Handschrift, etwa in der Form der Schlüssel, auf den Kopisten zu schließen, wenn dessen Name nicht bekannt war. Landshoff gab noch 1937 das Musikalische Opfer im Urtext heraus, dann emigrierte er und starb 1941 in New York.

Der nachhaltige Eindruck, den die Ausgabe der Inventionen durch Landshoff gemacht hatte, veranlaßte den Verlag, die Reihe fortzusetzen, zunächst noch ohne den Gedanken an eine Gesamtausgabe. Schon die Ausgabe der 16 Konzerte nach Vivaldi und anderen durch Arnold Schering (1877-1941) konnte als Urtextausgabe gelten, da Schering nur durch eingeklammerte forte- und piano-Zeichen die Aufteilung von Grosso und Concertino verdeutlichte, im übrigen aber den Notentext unverändert ließ. Vier Jahre nach den Inventionen, im Jahre 1937, folgte eine Urtextausgabe der vier Teile der Klavierübung, Sechs Partiten, Italienisches Konzert und Französische Ouvertüre, Vier Duette und Aria mit 30 Veränderungen, die der Berliner Kapellmeister Kurt Soldan (1891-1946) nach der originalen Stichausgabe besorgte, wobei er Bachs Autograph mit in Betracht zog und die Abweichungen im Revisionsbericht mitteilte. (Zu ergänzen wäre, daß der charakteristische Mordent, mit dem die Hauptstimme im zweiten Satz des Italienischen Konzerts beginnt, in der Handschrift Bachs fehlt.) Bald nach dieser Ausgabe verhinderten der Ausbruch des Krieges, die Luftangriffe auf Leipzig, der Zusammenbruch und die Mühseligkeiten des Wiederaufbaus die Fortsetzung der Urtextausgaben. Erst im Jahre 1950 wurde die Reihe durch Alfred Kreutz fortgesetzt, der die Englischen Suiten in einer sorgfältigen Urtextausgabe herausgab. Kreutz (1900-1960), Klavierlehrer an der Hochschule für Musik in Stuttgart, vortrefflicher Clavichordspieler und Kenner der Spielmanieren des 18. Jahrhunderts, hatte zwar über den Text der Ausgabe der Bachgesellschaft hinaus nicht viel Neues bringen können, wohl aber eine Verbesserung der Verzierungen. Dies regte ihn an, der Ausgabe einen Anhang über Die Ornamentik in J. S. Bachs Klavierwerken beizugeben. Von da an zielte der Verlag unter der tatkräftigen Führung seines Cheflektors Wilhelm Weismann auf eine Vervollständigung der Urtextausgabe der Bachschen Klavierwerke. Den nächsten Band, die sieben Toccaten, gab der Verfasser dieser Übersicht 1956 heraus. Seine Aufgabenstellung war dabei von anderer Art als bei den bis dahin erschienenen Bänden. Diese konnten sich auf Bachs Eigenschrift, auf originale Stichausgaben und auf Abschriften ersten Ranges stützen, wenn kein Autograph mehr vorlag; hier aber, wie bei den meisten Jugendwerken Bachs, war die Überlieferung unsicherer, von keiner Komposition war ein Autograph vorhanden, die Abschriften waren also lediglich nach ihrem musikalischen Wert, ihrer musikalischen Glaubwürdigkeit zu prüfen. Es ist zu hoffen, daß die begonnene exakte Vergleichung der Abschriften Bachscher Werke nach den Kennzeichen ihrer Handschrift in den nächsten Jahren zu einer weiteren Klärung führt. Es wird aber immer unsicher bleiben, ob eine Variante, die vielleicht eine entschiedene Verbesserung bedeutet, aber ihrem Stil nach auf eine bedeutend spätere Zeit weist, als authentisch angesehen werden kann. Hier kann nur eine mutmaßliche Entscheidung, und diese nur von Fall zu Fall, getroffen werden.

Ein Hauptanliegen des Verlages war es, nun auch die Krollsche Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers zu überprüfen und zu revidieren. Auch dafür wurde Alfred Kreutz bestellt, der über zehn Jahre an dieser Aufgabe arbeitete. Auch er konnte freilich den von Kroll ermittelten und von Bischoff in seiner Ausgabe bei Steingräber festgestellten Text nur an wenigen Stellen verbessern; aber er konnte Eigenheiten des Bachschen Notenbildes und die Ornamente genauer und richtiger wiedergeben, als dies hundert Jahre zuvor möglich gewesen war. Auch dieser Aufgabe fügte Kreutz ein Beiheft zu, das Anmerkungen zum Vortrag, insbesondere zur Ausführung der Verzierungen, und einen kurz gefaßten, aber alles Wesentliche enthaltenden Revisionsbericht enthielt. Von der Sorgfalt dieser Ausgabe geben besonders auch die Fingersätze Zeugnis. Als Kreutz an seinem 60. Geburtstag, dem 6. Januar 1960, einem heimtückischen Leiden erlag, war der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers ganz fertig und stichreif, vom zweiten aber waren keine Skizzen und Vorarbeiten vorhanden. Mit dem Tod von Kreutz waren alle seitherigen Mitarbeiter an der Urtextausgabe der Bachschen Klavierwerke dahingegangen, bis auf den Verfasser dieser Zeilen, dem der Verlag nun die Aufgabe übertrug, den zweiten Teil des Werkes im Urtext herauszugeben. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Handschriften war geringer als beim ersten Teil. Da seit 1896 das Londoner Autograph des zweiten Teils bekannt war, da die beiden wichtigsten Abschriften, auf die Bach selber noch Einfluß genommen hatte, die von Altnikol und von Kirnberger, weitere Quellen ersten Ranges darstellten, konnte auf die Quellen zweiten und dritten Ranges, mit Ausnahme der Handschriften von Forkel und Schwencke, verzichtet werden. Ebenso verzichtete ich auf Anweisungen zum Vortrag, da ich dafür auf die betreffenden Abschnitte in meinem Buch Die Klavierwerke Bachs und jetzt auf die Anfang 1966 erschienene Monographie über das Wohltemperierte Klavier verweisen kann. Vom h-Moll-Präludium habe ich beide Fassungen mitgeteilt: Altnikol und Kirnberger. Diese in halben Notenwerten und daher doppelt so großen Takten. Hier genügte es mir nicht, mich für die eine oder andere Lesart zu entscheiden, ebenso wie ich glaubte, das erste Präludium in beiden Fassungen, der des Autographs und der Abschrift von Altnikol vollständig mitteilen zu sollen. Eine Ausgabe der Französischen Suiten, in der ich dem reinen Notentext Tempo-Angaben und, in kleinem Druck, zu Anfang jedes Satzes dynamische Vorschläge beigefügt, auch staccato-Zeichen ergänzt hatte, wurde damals irrtümlicherweise als Urtextausgabe bezeichnet; nachdem die Auflage erschöpft war, wurde sie durch eine wirkliche Urtextausgabe ersetzt.

Es folgte der Band Suiten und Suitensätze, der die einzeln überlieferten Suiten und die Klavierfassung der Lautensuiten vereinigte; die seither nur in e-Moll bekannte Suite BWV 996 wurde nach einer in Brüssel befindlichen Handschrift eine Quarte höher in a-Moll mitgeteilt, dagegen wurde die Lautensuite g-Moll BWV 995 als eine bloße Übertragung der Cello-Suite c-Moll BWV 1011 nicht aufgenommen. Ein weiterer Band, Sonaten und Sonatensätze, vereinigte die nach Reinkenschen Triosonaten komponierten Sonaten und Bachs Übertragungen aus seinen eigenen Solo-Sonaten für Violine, ein anderer enthält die Fantasien und Fugen BWV 903, 944, 906, 904 und 894. Die erste Nummer daraus, die Chromatische Phantasie und Fuge, erschien auch als Einzelausgabe, mit den Varianten der Handschriften von Rust und Krebs, Anweisungen zum Vortrag der Arpeggien und, im Nachwort, aus Griepenkerls Ausgabe, die er 1819 bei Peters herausgab, seine "Bezeichnung ihres wahren Vortrags, wie derselbe von J. S. Bach auf Friedemann, von diesem auf Forkel und von Forkel auf seine Schüler gekommen". Solche dem Lebenskreis des Komponisten nahestehenden ästhetischen Würdigungen sind von größtem Wert; man denke an Czernys neulich wieder herausgegebene Anweisungen zum Vortrag der Beethovenschen Klaviersonaten. Nun bleiben nur noch die Kleinen Präludien und Fughetten übrig, die in ihrer seit langer Zeit eingeführten Zusammenstellung belassen wurden. Bekanntlich gibt es keine "Zwölf kleine Präludien für Anfänger" von Bach; in einer rein philologischen Ausgabe müßten sie getrennt werden, - aber Griepenkerls Zusammenstellung ist so glücklich, daß sie wohl für immer bleiben wird.

Damit war die Zahl der Werke, die Bach selbst zu Sammlungen zusammengestellt hat und derer, die nach ihren Formen eine solche Zusammenstellung rechtfertigten, erschöpft; es blieb nun die Aufgabe, die verstreuten Kompositionen Bachs, meist aus seiner Jugendzeit, in einem Supplementband zu vereinigen und innerhalb desselben so sinnvoll wie möglich zu ordnen. Unter diesen Arbeiten befanden sich eine große Zahl unsicher überlieferter, schwach beglaubigter Werke, unter denen ausgewählt werden mußte. Ein Werk, das nur in einer einzigen Abschrift ohne Signatur oder nur unter dem vieldeutigen Namen "Bach" überliefert war, betrachtete ich als unecht, wenn es nicht unzweideutig Bachs Stil aufwies, der aber, zum Beispiel von Johann Peter Kellner, manchmal täuschend nachgeahmt wurde. Andere musikalisch schwache Arbeiten, die, wenn sie von Bach sein sollten, nur als Studien aus seinen Jugendjahren zu bewerten sind, sehr wahrscheinlich aber nicht von ihm stammen, wurden gleichfalls nicht aufgenommen, da sie mit Recht nie gespielt werden. So kam es zu folgender Zusammenstellung des Supplementbandes: Die beiden Capricci in B-Dur BWV 992 und E-Dur BWV 993, die Aria variata a-Moll BWV 989, die Fugen in A-Dur und h-Moll nach Albinoni BWV 950 und 951, einige Vorformen zum 2. Teil des Wohltemperierten Klaviers BWV 872a, 901 und 902, drei Menuette und die Applicatio aus dem Klavierbüchlein für Friedemann Bach, BWV 941-943 und 994. Aus der Zahl der schwach beglaubigten Jugendfugen wurden zwei aufgenommen: e-Moll BWV 945 und a-Moll BWV 947; von den Fantasien die wahrscheinlich unvollständige und handschriftlich von Kellner überlieferte in c-Moll BWV 919 und eine in a-Moll BWV 922, die in der Unersättlichkeit eines jugendlich leidenschaftlichen Gefühls nach meiner Meinung nur von Bach stammen kann. Sie wirkt wie manches hochpathetische Jugendgedicht von Schiller.

Manche Leser werden urteilen, diese Aufzählung der seit 1960 erschienenen Urtextausgaben der Bachschen Klavierwerke, die nun vollständig vorliegt, sei allzusehr pro domo geschrieben. Mag sein, doch stand dies nicht im Vordergrund. Es wird noch Jahre dauern, bis das Klavierwerk Bachs in der Neuen Bach-Ausgabe vollständig vorliegt, mit dicken Bänden, die die Revisionsberichte enthalten. Das ist notwendig und gut. Aber ebenso notwendig und gut ist der Versuch eines großen Verlages, für den praktischen Gebrauch der Musikliebhaber und der Fachleute eine Urtextausgabe zu schaffen, die außer dem reinen Notentext Fingersätze enthält, mit Angabe der wichtigsten Varianten in gedrängter Form. Natürlich ist diese Ausgabe, die sich erst bewähren muß, in ihrer ersten Form noch in Einzelheiten verbesserungsbedürftig, und sowohl der Verlag wie der Herausgeber der letzten Bände sind für diesbezügliche Kritik und Anregungen dankbar. Unser Bestreben war und unser Wunsch ist, daß sie sich neben den wissenschaftlichen Ausgaben ebenso halten, neben ihnen ebenso bestehen möge, wie Griepenkerls Ausgabe der Orgelwerke neben der Ausgabe der Bachgesellschaft und der im Entstehen begriffenen Neuen Bach-Ausgabe. Und ist es nicht von Reiz, in unserer Zeit, da das Tagesgeschehen auch in der Musik uns hundertfältig berührt und von uns aufgenommen und bejaht werden will, einen Blick auf die hundert Jahre zurückzuwerfen, da diese Ausgabe in aller Stille entstand, langsam wuchs und schließlich vollendet wurde?

Quelle:
Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1965, Hrsg. von Walther Vetter, 10. Jahrgang, Leipzig Edition Peters 1966, S. 127 - 132