1966 · Beaumarchais, da Ponte und Mozart

Deutsches Mozartfest in Stuttgart

Endlich ist es so weit: Figaro kann seine Susanne heiraten, er lädt zur Hochzeit alle ein, "die mir meine Frau und mein Geld nicht wegnehmen wollen", und - "ich stelle mir vor" - , dazu sind außer den Gästen vom Schloß und der Nachbarschaft auch drei illustre Gäste von weiter her gekommen: Herr Beaumarchais aus Paris, der Abbate und Hofdichter Lorenzo da Ponte und der stellenlose Kapellmeister Mozart, die beiden letzteren aus Wien.

Daß Herr Beaumarchais, nicht fehlen durfte, ist selbstverständlich. Er war drei Jahre zuvor in Spanien gewesen, um seiner Schwester gegen ihren ungetreuen Bräutigam beizustehen (wovon Goethe im "Clavigo" berichtet), und war da Zeuge des ergötzlichen Handels gewesen, als der flotte Graf Almaviva dem Arzt Bartolo sein Mündel Rosina, ein reizendes junges Mädchen, das der Alte selber gerne geheiratet hätte, mit mancherlei List entführte, wobei ihm ein Barbier in Sevilla, namens Figaro, behilflich war. Er konnte es damals nicht unterlassen, diese Begebenheit in einer Komödie festzuhalten. Drei Jahre sind vergangen. Rosina ist Frau Gräfin geworden. Der Graf hat Figaro als seinen Kammerdiener und Kastellan auf sein drei Meilen von Sevilla gelegenes Schloß mitgenommen, auch Marzelline, die Erzieherin Rosinas, und ihren Musikmeister Basilio (ein leider ziemlich charakterloses Subjekt), nicht aber den Doktor Bartolo, der grollend in Sevilla bleibt. Nun will auch Figaro heiraten, die Kammerjungfer der Gräfin, Susanne, eine Waise; ihr Vormund und Onkel ist der ewig betrunkene Gärtner Antonio. Auf Susanne hat es der Graf abgesehen; er möchte mit ihr das "jus primae noctis", das alte Herrenrecht, dessen er sich schon großmütig begeben hatte (Herzog Karl Eugen von Württemberg hat es als letzter Souverän ausgeübt), noch einmal ausprobieren. Sein Gegenspieler ist natürlich Figaro, unterstützt von Susanne und der Gräfin. Jede Partei legt ihre Minen, der Graf wird mit Leichtigkeit überspielt und Figaro darf seine Susanne unbeschädigt in seine Arme schließen.

Es ist wirklich ein "toller Tag" ("une folle journee"), an dem sich das alles ereignet, und Beaumarchais ist entzückt, einen noch vortrefflicheren Stoff als vor drei Jahren unter die Hände zu bekommen. Er macht ein so meisterhaftes Lustspiel daraus, mit so gepfefferten Anspielungen auf die Gesellschaft, daß es zunächst verboten wird, aber dann um so größeren Erfolg hat. Er war ja schon berühmt (bzw. berüchtigt) durch seine "Denkwürdigkeiten", in denen er die Korruption der Justiz schonungslos angegriffen hatte, - hier tut er es nun scherzhaft, aber um so wirkungsvoller.

Ich stelle mir vor, daß als zweiter Gast auf dieser Hochzeit der galante, mit jeder Intrige vertraute Abbate da Ponte erscheint, der diesem tollen Treiben schmunzelnd zusieht, und sofort erkennt, was für eine prächtige Buffo-Oper man daraus machen könne, wenn man die Gesellschafte-Kritik etwas in den Hintergrund und das Intrigenspiel, das sich um die Liebe dreht, in den Vordergrund stellt. Als erfahrener Routinier macht er aus der Komödie ein Libretto, als dessen Komponist nun Herr "Capellmeister Mozart", der das Sujet selbst ausgesucht hatte, als dritter Gast auftritt. Er ist hell entzückt von dem Stoff. Nun erfüllt sich, was er ein paar Jahre zuvor an den Vater geschrieben hatte; er wünsche sich einen Opernstoff, in den, "wenn es möglich wäre, zwei gleich gute Frauenzimmer-Rollen hineinzubringen wären. Die eine müßte seria, die andere aber Mezzo-Carattere seyn", die eine also jugendliche Liebhaberin, die andere Halb-Soubrette. Nicht nur das gab ihm das Textbuch, sondern noch zwei Frauenzimmer-Rollen dazu, freilich zweiten Ranges; Marzelline und Barbarina, dazu eine Hosenrolle (Cherubino) allerersten Ranges! Da nach einem ungeschriebenen Gesetz in der Oper ein weibliches Wesen, das liebt, nur Sopran singen darf, niemals Alt, so haben wir im "Figaro" vier Sopranistinnen und einen Mezzosopran (Marzelline). Denn alle fünf lieben! Auch das Sortiment der Männer-Rollen ließ an Reichhaltigkeit nichts zu wünschen übrig: der Graf und Figaro als die beiden Gegenspieler, der Arzt Bartolo, der von Sevilla zur Hochzeit herübergekommen ist (NB. um sie zu verhindern), der Musikmeister Basilio, der stotternde Richter Curzio. Über alle diese Gestalten goß Mozart den Zauber seiner Musik, entkleidete die Personen der banalen Züge, die ihnen im Leben und im Schauspiel noch anhafteten, und schrieb eine Meisteroper mit der vollkommensten Musik, die ihm jemals auf dem Theater gelang.

Aber unter Hand hat sich auf diese Weise der Stoff etwas verwandelt: von der Komödie des Beaumarchais zum Libretto da Pontes und zur Musik Mozarts. Schauspiel und Oper haben ihre eigenen Gesetze. Da dem Libretto des gewandten Italieners eines der ausgezeichnetsten Lustspiele des Jahrhunderts zu Grunde liegt, so sind eben doch ein paar Züge bei der Umsetzung in die Oper abgeschwächt oder verändert worden. Davon soll im Folgenden die Rede sein; vielleicht, daß durch einen solchen Vergleich das Verständnis und damit der Genuß der Oper erleichtert und vertieft werden können.

Beginnen wir mit dem Helden unserer Komödie, dem trefflichen Figaro! Wir müssen uns ihn wesentlich älter denken als Susanne. Er ist mehr als nur ein liebenswürdiger Tausendsassa ("Figaro hier, Figaro dort"); er hat studiert, hat es mit mehreren Berufen versucht, sah aber, daß man mit Redlichkeit nicht weiterkommen könne. So wird er wandernder Bader, und in dieser Eigenschaft trifft er in Sevilla den Grafen, der ihn mitnimmt. Nun hätte er ein sorgenfreies Leben, wenn nicht ... Er weiß, daß er dem Grafen an Bildung und Weltkenntnis überlegen ist. "Sie, gnädiger Herr, haben sich die Mühe gemacht, geboren zu werden und weiter nichts, während ich, verloren in der namenlosen Menge, mich anstrengen mußte". Den großen Monolog Figaros, in dem er sein Leben erzählt und über den Weltlauf philosophiert, hat da Ponte mit Recht weggelassen (er war ohnehin mehr bezeichnend für Beaumarchais als für Figaro). Er ist Realist und daher nicht einmal von der Treue Susannes restlos überzeugt. Sein Gegenspieler, der Graf, ist nicht dumm, aber er hält das angenehme Leben, das er führt ("alma vita", heute "la dolce vita"), für das selbstverständliche Vorrecht seiner Klasse. Er begreift nicht, daß die Zeiten anders geworden sind, und wird daher von Figaro unter Beihilfe der Damen mattgesetzt. Und der Page Cherubino? Den hat Beaumarchais mit so viel Charme gezeichnet, daß weder da Ponte noch Mozart zu retouchieren brauchten. Cherubino: das ist Mozart selbst, als er jung war. Er hatte einmal dem Vater geschrieben: "Wenn ich alle heiraten müßte, mit denen ich einmal gescherzt habe, so könnte ich leicht zweihundert Frauen haben" (in Spanien wären es vielleicht 1003 gewesen?). Cherubino, der in die Liebe selbst verliebt ist, den jedes weibliche Wesen erröten macht, hat doch ein Idealbild, an dem er hinaufsieht: das ist die Gräfin. Seine übrigen Liebeleien sind die Vorspiele zu den späteren Amouren eines Don Juans. Ja, die Gräfin selbst ist nicht unempfindlich gegen seine Huldigungen. Den beiden männlichen Nebenrollen, Bartolo und Basilio, gibt da Ponte zu viel Gewicht, da er jedem eine Arie zuweist (nach einem ungeschriebenen Gesetz der Oper darf jeder mindestens eine Arie singen). - So wird die Verärgerung Bartolos über Figaro (die dann so überraschend in Vaterliebe umschlägt) zu stark betont, und die Arie des Basilio (sein Erlebnis mit der Eselshaut) ist ebenso albern wie die der Marzellina (Nr. 25), die im Zusammenhang fast unverständlich bleibt. An ihrer Stelle steht bei Beaumarchais ein Monolog der Marzellina über das beklagenswerte Los lediger Mütter. Man sieht, daß überall da, wo da Ponte sich von seinem Vorbild löst, das Niveau beträchtlich absinkt, und auch Mozarts Musik ist in diesen Arien nicht auf der gewohnten Höhe.

Die Gerichtsszene hat da Ponte stark zusammengestrichen, - bei Beaumarchais ist sie liebevoll ausgeführt und voll von kleinen Bosheiten (der unfähige, stotternde Richter hat sein Amt gekauft, und als Susanne sich halblaut darüber empört, daß Ämter gekauft werden können, gibt er ihr Recht: "Ja, es wäre viel besser, wenn man sie uns schenken würde.")

Nun aber zu den Frauenrollen, die da Ponte als erfahrener Kenner liebevoll gezeichnet und die Mozart mit seiner unvergänglichen Musik umhüllt und erhoben hat. Nicht weniger als vier Sopran-Rollen, und wie verschieden ist jede! Die Hauptperson ist nicht Susanne, sondern die Gräfin. Sie mag 18 Jahre gewesen sein, als der Graf sie aus Sevilla entführte (ihn selbst denken wir uns etwa als 25, Figaro als 30 Jahre alt). Sie ist also Anfangs der Zwanzig, beileibe keine halb verblühte Frau, sondern fast noch ein Kind, im Grund naiv, nur ihrem Gefühl hingegeben, das in einer rührenden Hingabe an den Gatten ruht. Aber sie muß erkennen: "Ich habe ihn durch Zärtlichkeit ermüdet, durch meine Liebe gelangweilt." Dabei durchschaut sie ihn: "Wenn er trotz seiner Untreue eifersüchtig ist, so nur aus männlicher Eitelkeit." Ich stelle sie mir mittelgroß, schlank, brünett, mit großen braunen Augen vor; da sie um die Untreue des Gatten weiß, ist sie innerlich unruhig geworden. Ihr klopfendes Herz macht sie schwach. Sie würde den Pagen erhören, wenn er einen stärkeren Angriff wagen würde. Sie scheut auch krumme Wege nicht, um ihren Gatten wiederzugewinnen: Cherubin soll sich als Susanne verkleiden, um statt dieser zum Stelldichein mit dem Grafen des Nachts in den Garten unter die großen Kastanienbäume zu kommen; als dies nicht möglich ist, will sie es selbst tun, obwohl sie weiß, in welche Gefahr sie damit sich selbst und Susanna bringt. Ganz anders ist Susanna (Mozart hat den Unterschied beider Gestalten dadurch charakterisiert, daß er die Gräfin mit der Klarinette, die Susanne durch die Oboe kennzeichnet).

Sie verachtet das Intrigenspiel, mit dem die vornehmen Herrschaften ihr Leben und ihre Zeit ausfüllen; auf die Verkleidung geht sie nur aus Dankbarkeit gegen die Gräfin ein. Sie hat ein natürliches Gefühl für Sauberkeit; die Ohrfeigen, die sie Figaro gibt, als er an ihr zweifelt, sind echt gemeint. Sie ist das gerade Gegenteil von Cherubino, der haltlos jeder Neigung nachgibt (freilich wird dessen erste Arie "Non so pi , cosa son', cosa faccio", meist so überhetzt gesungen, daß von der Unruhe und Verwirrung, die sie ausdrückt, nichts mehr übrig bleibt). Cherubino ist nicht mehr als 16 Jahre, Barbarina etwa 14, ebenso frühreif, aber unschuldiger als Cherubino. Marzellina ist bei Beaumarchais nicht die übliche komische Alte. Sie mag 45 Jahre zählen, ist schon in früher Jugend von Bartolo verführt worden, und sie beklagt sich bitter über die doppelte Moral, nach der ein Mann frei ausgeht, der ein Mädchen ins Unglück gestürzt hat. Sie hat Bildung, und sie will einfach heiraten. Deswegen hängt sie sich an Figaro, bis sich herausstellt, daß sie ja seine Mutter ist (dies ist der einzige nicht recht glaubhafte Punkt der Komödie, die sonst so lebensnah ist, daß alles sich so zugetragen haben könnte, wie Beaumarchais es darstellt).

Mozart hat aber nicht nur komponiert, was ihm da Ponte bot, sondern den Lustspielton noch verstärkt durch Feinheiten der Diktion und der Instrumentation, letzteres besonders da, wo Figaro in seiner ersten Arie (Cavatino) droht, dem Grafen Gleiches mit Gleichem zu vergelten, d.h. ihm Hörner aufzusetzen. Daher begleitet das Orchester die Arie mit zwei Hörnern und Streichern pizzicato ("Soll ich im Springen ihm Unterricht geben?"), ebenso im letzten Akt, in dem Figaro die armen betörten Männer warnt, - auch da unterstreichen zwei Hörner im Orchester sehr deutlich die Situation.

Bei Beaumarchais endet der "tolle Tag" damit, daß jeder Darsteller an die Rampe tritt, seinen Vers singt, zuletzt der Trottel von Richter, der als Quintessenz des Stückes "die Moral von der Geschicht" aussprechen darf (in der Übersetzung von A. und H. Seiffert):

Ja, das Stück, das wir gegeben,
und das ihr jetzt kritisiert,
zeigt des guten Volkes Leiden,
wenn ich's richtig hab kapiert.
Wenn man' s drückt, wird's sich erheben,
und wer weiß, was dann geschieht, -
doch am Ende singt's ein Lied ...

Ein Lied! - Das Lied, das es ein paar Jahre später gesungen hat, war die Marseillaise -.

Einen solchen Schluß konnte weder da Ponte noch Mozart brauchen: nun ist das Spiel aus, alles ist verziehen, auf zur Hochzeit! Auf zur Hochzeit! Es gibt ja nach so vielen Verwicklungen nicht nur ein, sondern vier glückliche Paare.

Aber wird ihr Glück von Dauer sein? Wird Figaro sich später scheiden lassen, wie ein moderner Autor annimmt? Wird der Graf sein flottes Kavaliersleben nach dieser Beschämung wirklich aufgeben? Werden Bartolo und Marzellina, die auf so unvermutete Weise doch ein Paar geworden sind, auch gut zusammenleben? Wird für den blutjungen Leutnant Cherubino seine noch jüngere Barbarina nicht nur eine von vielen sein?

Die drei prominenten Gäste, die zu Figaros Hochzeit gekommen sind, hätten dazu, jeder nach seiner Erfahrung, allerhand zu sagen gehabt. Aber sie lächeln und schweigen. Der Vorhang fällt. Über alles die Liebe .. .

Quelle:
Gesamtprogramm zum Deutschen Mozartfest in Stuttgart, Oktober 1966