1966 · F. Busoni und J. S. Bach

8.10.1966 - Vortrag

Einführung Konzert Markuskirche Stuttgart

Wir werden nachher eines der bedeutendsten Werke von Busoni, die Fantasia Contrappuntistica, in der Orgelübertragung von H. B. hören, und ich möchte mit meinen Ausführungen nicht mehr als Ihnen den Zugang zu diesem Werk erleichtern. Ich will also keine Parallele zwischen Busoni und Bach ziehen, aber es ist notwendig, von Busonis künstlerischer Persönlichkeit und seinem Verhältnis zu Bach auszugehen.

Die musikalische Welt hat in diesem Jahr des 100. Geburtstags dieses grossen Künstlers flüchtig gedacht. Der 50. Todestag von Max Reger wurde mit einer ganzen Reihe von Reger-Abenden würdig begangen, aber es hat meines Wissens keinen einzigen Busoni-Abend gegeben. Das liegt wohl daran, dass Busoni seine reichen Gaben nach so vielen Richtungen vertauet hat, dass er kaum an 1 Punkte zu fassen ist. Er war einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen seiner Zeit, aber es gab damals noch keine Schallplatten wie heute, und daher ist von seinem Spiel nichts auf die Nachwelt gekommen. Er war Lehrer und hatte begabte Schüler, aber auch diese sind dahingegangen. Er war ein kühner und origineller Denker und er hat seine Ideen in einem schmalen Bändchen "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" konzentriert niedergelegt, das vor 50 Jahren auf die Entwicklung der neuen Musik Einfluss gehabt hat.

Er war Komponist, aber nicht ausschliesslich Komponist, - und man spürt das, dass er nicht seine ganze Kraft in sein kompositorisches Schaffen konzentriert hat. So war er wohl eine faszinierende Erscheinung, aber die Nachwelt hat wenig, woran sie sich halten kann, wenn sie von Busoni sich ein Bild machen will. Nur in einem Punkte hat Busoni über seine Zeit hinaus nachhaltig gewirkt und wirkt noch weiter: in seinem Verhältnis zu Bach. Er hat eine Reihe grosser Orgelwerke Bachs für den modernen Konzertflügel übertragen, mit reichlichen Oktavverdoppelungen, - aber dieser Stil gilt heute, im Zeichen der Werktreue und der Historisierung, nicht viel. Er hat alle Klavierwerke Bachs für den Unterricht neu herausgegeben mit geistvollen Kommentaren, an denen heute noch jeder Liebhaber und Fachmann etwas lernen kann, - es ist so, wie wenn man sich mit einem bedeutenden, geistvollen Künstler über diese Dinge unterhält, leider werden auch diese Ausgaben heute viel zu wenig gekannt und benützt. Bach hat aber noch stärkeren Einfluss auf Busoni gehabt: er hat ihn zu eigenem Schaffen inspiriert. Dem verdanken wir mehrere Werke, denen Bachsches Gedankengut zu Grunde liegt, z. B. die Violinsonate e-moll mit Variationen über und vor allem die Fantasia Contrappuntistica. Sie wurde 1909 schon komponiert für Klavier, dann hat Busoni sie 1922 für 2 Klaviere umgearbeitet, weil er sah, dass 1 Klavier allein nicht genügte, ein amerikanischer Organist Middelschulte hat sie für Orgel übertragen, eine neue Übertragung für Orgel hat vor 11 Jahren H. B. gemacht, die besonders für die Orgel der Liederhalle gedacht war. Was soll nun gelten? Busoni: Jedenfalls Orgel mehr als Klavier.

Der Plan:
1) Fantasie über "Allein Gott in der Höh sei Ehr". Dann Contrapunctus XIX aus der Kunst der Fuge von Bach [Beispiel] bei Busoni: [Beispiel], dann noch einmal anders, auch aus Contrapunctus XI noch Themen, - dann taucht der Choral "Allein Gott" wieder auf, führt zum Schluss.

Das alles ist in der sehr eigenwilligen Tonsprache Busonis zu einem grossen Werk vereinigt, das etwa 40 Minuten dauert. Busonis Werk hat noch nicht eigentlich gelebt. Es ist - wie man heute sagt - "nicht angekommen". Vielleicht war die richtige klangliche Verwirklichung noch nicht gefunden? Vielleicht in den nächsten Jahrzehnten? Wir wissen es nicht, Aber wir fühlen, dass man sich darum bemühen muss. Es stellt aussergewöhnlich grosse Anforderungen an den Hörer wie den Spieler. Dass er mit diesem Werk Grosses gewollt hat, ist sicher, - ob er es erreicht hat, muss die Nachwelt entscheiden.

Quelle: Schreibmaschinen-Manuskript