Bach und Friedrich der Große

Süddeutscher Rundfunk, 13.01.1964

(Das musikalische Opfer)

War es eine Sternstunde der Menschheit, als der größte Staatsmann und Feldherr seiner Zeit und der große Thomaskantor im Mai des Jahres 1747 einander Auge in Auge gegenüberstanden? Ahnte der eine etwas von der Größe und Bedeutung des Andern? Wir wissen es nicht und möchten es bezweifeln, - aber dieser Begegnung verdanken wir ein hochbedeutendes Spätwerk Bachs, das "Musikalische Opfer", eine Sammlung von zwei Fugen, einigen Kanons und einer Triosonate, alle über ein und dasselbe Thema, das der König in Potsdam dem Kantor Bach aufgegeben hatte, damit dieser darüber eine Fuge improvisieren sollte. Bach ließ das Werk in Kupfer stechen und legte es als ein "musikalisches Opfer" auf dem Altar seiner Verehrung für den großen Preußenkönig nieder.

Die näheren Umstände dieser Begegnung kennen wir durch Forkel, welchem Friedemann sie erzählt hat. Der zweite Sohn Bachs, Philipp Emanuel, lebte in Berlin als Cembalist des Königs. Er hatte eine Berlinerin geheiratet, ein Sohn war ihm geboren, und Bach wollte seine Schwiegertochter gerne kennenlernen und seinen ersten Enkel sehen. Nachdem die unruhigen Kriegszeiten vorüber waren, kam es Anfang Mai 1747 endlich dazu. Er reiste über Halle, wo sein ältester Sohn Friedemann Organist war, und nahm ihn mit. Philipp Emanuel hatte dem König öfter von seinem Vater erzählt, und als dieser in Berlin angekommen war, wurde er alsbald nach Sans-Souci befohlen, wo an allen Abenden vor der königlichen Abendtafel, (wenn nicht Opernvorstellung war) ein Kammerkonzert abgehalten wurde, das "Flötenkonzert in Sans-Souci", das Sie aus dem berühmten Bild von Menzel kennen. Als Bach eintraf, brach der König mit den Worten "Meine Herrn, der alte Bach ist gekommen!" das Konzert ab. Nun wollte er Bachs Können auf die Probe stellen. Bach mußte in allen Zimmern des Schlosses, in denen Cembali oder Hammerklaviere standen, die Instrumente durchprobieren und auf ihnen fantasieren.

"Schließlich bat er sich vom König ein Thema aus, um darüber eine Fuge zu improvisieren. Der König bewunderte die gelehrte Art, mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde, und äußerte nun den Wunsch vermutlich, um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne -, auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine ebenso prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er vorher mit dem Thema des Königs getan hatte" berichtet Forkel.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, ließ er sich dann noch in der Garnisonkirche in Potsdam als Orgelspieler hören, dann reiste er wieder nach Hause, ohne ein Honorar oder irgend eine Anerkennung erhalten zu haben. Diese Geringschätzung schien in ihm einen Stachel hinterlassen zu haben; er machte sich daran, die Themen, über die er in Potsdam vor dem König improvisiert hatte, auszuarbeiten; so entstanden die beiden Ricercari zu 3 und 6 Stimmen, dann fügte er noch eine Anzahl Kanons über dasselbe Thema dazu und schließlich als Verbeugung vor der Flötenkunst des Königs eine viersätzige Triosonate für Flöte, Violine und Generalbaß.

Die Widmung an den König hat folgenden Wortlaut: "Allergnädigster König! Eurer Majestät weihe hiemit in tiefster Unterthänigkeit ein Musikalisches Opfer, dessen edelster Teil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich dann noch der ganz besonderen königlichen Gnade, da vor einiger Zeit bei meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in deroselben höchsten Gegenwart auszuführen. Ew. Majestät zu gehorsamen, war meine untertänigste Schuldigkeit. Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nötiger Vorbereitung die Ausführung nicht also geraten wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte. Ich fassete demnach den Entschluß, und machte mich sogleich anheischig, dieses recht Kgl. Thema vollkommener auszuarbeiten, und sodann der Welt bekannt zu machen. Dieser Vorsatz ist nunmehro nach Vermögen bewerkstelliget worden, und er hat keine andere als nur diese untadelhafte Absicht, den Ruhm eines Monarchen, obgleich nur in kleinem Punkte zu verherrlichen, dessen Größe und Stärke gleichwie in allen Kriegs- und Friedenswissenschaften, also auch besonders in der Musik, Jedermann bewundern und verehren muß. Ich erkühne mich, dieses untertänigste Bitten hinzuzufügen: Ew. Majestät geruhen gegenwärtige wenige Arbeit mit einer gnädigen Aufnahme zu würdigen, und Deroselben Allerhöchste Kgl. Gnade auch fernerweit zu gönnen.

Ew. Majestät
untertänigst gehorsamem Knechte
Leipzig, den 7. Juli 1747.
dem Verfasser.

An dieser Widmung und an den Umständen, unter denen sie geschah, ist manches merkwürdig. Betrachten wir zunächst einmal das "Kgl." Thema.

Es ist ganz ausgeschlossen, daß es in dieser Gestalt von Friedrich dem Großen stammt; es ist vielmehr so durch und durch Bachisch, ja es ist unter allen seinen Fugenthemen eines der großartigsten, daß es in dieser Formung nur aus Bachs Meisterhand hervorgegangen sein kann. Eine ganze Welt trennt es von dem Musikstil des Königs, der italienisch weich und kantabel war.

Auch Bachs Thema darf man als Kgl. bezeichnen, aber diesen Rang gibt ihm Bach! Und nun stellt er an die Spitze seiner Sammlung eine 3-st. Fuge, für Cembalo, die auf die Improvisation in Potsdam zurückgeht, aber nun meisterlich ausgearbeitet ist.

Bach gab dieser und der nächsten Fuge den altertümlichen Namen "Ricercare", der sich sonst nirgends bei ihm findet. Das R. war im 17 Jahrhundert eine Vorform der Fuge, aus verschiedenen, selbständigen Teilen zusammengesetzt. Nichts davon ist bei Bach zu finden. Man kann nur annehmen, daß er sie so genannt hat, weil er die Buchstaben des Wortes Ricercar in einer lateinischen Überschrift anbringen wollte: "Regis Jussu Cantio et Reliqua Arte Canonica Resoluta" - hier ergeben die Anfangsbuchstaben der Worte das Wort Ricercar. Bei der zweiten, der 6-st. Fuge hat Bach die Art der Ausführung den Spielern überlassen. Er hat sie - wie die Kunst der Fuge - auf 6 Systemen in Partitur notiert ohne Angabe der Instrumente. Für seinen eigenen Gebrauch hat er einen Klavierauszug gemacht, bei dem aber natürlich die Verflechtung der Stimmen nicht zur Erscheinung kommt.

Beide Fugen gehören zu den größten und gedankentiefsten, die Bach geschrieben hat. Wie hätten gerade sie dem König gefallen können? In der 1. Fuge häuft Bach manchmal die Dissonanzen in einer Weise, für welche die Generation nach ihm, zu der auch Friedrich der Große gehörte, kein Verständnis mehr haben konnte. Selbst heute, da wir Bachs Werk durch und durch studiert haben, ist uns in dieser ersten Fuge noch manches befremdlich, z.B. die vielen direkt gesuchten Querstände. Hätte Bach dem König schmeicheln wollen, dann hätte er anders komponieren müssen , - so aber stellt er kompromisslos seinen Stil dem des Königs direkt entgegen. Für Friedrich war Bach ein gelehrter, altmodischer Kantor, der erstaunlich viel konnte, aber eine Musik schrieb, die niemand mehr hören wollte. Es ist kaum anzunehmen, daß er sich mit diesen Stücken wirklich beschäftigt hat, er wird sie nach einem flüchtigen Blick darauf weggelegt haben. Er hat ja auch Bach nicht einmal für die Widmung gedankt! Und es ist ein für Friedrich beschämender Umstand: daß Bach viel Geld aufbrachte, das Musikalische Opfer in Kupfer drucken zu lassen, während der Empfänger der Widmung, der König, ihm kein Honorar, keine Erkenntlichkeit zukommen ließ!

Noch weniger konnte der König freilich mit den 8 Kanons anfangen, die Bach über dieses Thema in den verschiedensten Techniken geschrieben hat. Sie sind nicht ausgeschrieben, d.h. der Einsatz der nachahmenden Stimme ist lediglich durch irgend ein Zeichen angegeben, - oder auch nicht: "Quaerendo invenietis", - suchet, so werdet ihr finden, schreibt Bach über einen dieser Rätsel-Kanons. Auch hier huldigt er dem König: bei einem Kanon in der Vergrößerung schreibt er lateinisch darüber "Wie die Noten wachsen, so wachse das Glück des Königs", bei einem andern, der durch alle Tonarten geführt wird: "Wie die Modulation steigt, so steige der Ruhm des Königs"! Aber was hätte der König schon mit diesen "kontrapunktischen Künsteleien" (wie sie Forkel nennt) anfangen können, selbst wenn er gewollt hätte? Man muß diese Kanons im Zusammenhang mit Bachs Kanonischen Variationen über das Weihnachtslied "Vom Himmel hoch, da komm ich her" betrachten, die er ein Jahr später zur Aufnahme in die Musikalische Sozietät schrieb, - es sind auf das Äußerste verdichtete musikalische Gedanken, die ebenso mit dem Auge wie mit dem Ohr erfaßt sein wollen. Sie bleiben daher hier weg, da sie auf der Grenze von Kontrapunkt und lebendiger Musik stehen und sich erst bei einer längeren Vertiefung erschließen.

Alle diese Stücke, die beiden Ricercari und die Kanons, hätte der König kaum musizieren können, selbst wenn er gewollt hätte. Nun aber zum versöhnenden Abschluß schenkt Bach ihm (und uns) noch ein Stück reiner Musik: eine Triosonate für Flöte, Violine und bezifferten Baß, die der König mit Quantz als Flötisten, Graun als Geiger und Philipp Emanuel am Cembalo sich hätte vorspielen lassen können. Wir wissen nichts darüber. Auch in diese Sonate ist das Thema auf vielfältige Weise hineinverwoben. Im 1. Satz, einem Largo von edlem Ausdruck, ist das Hauptthema aus einer Umstellung des Ricercar-Themas gewonnen, und zugleich trägt es, (stufenweise auskomponiert) auch der Baß vor.

Der 2. Satz, ein weit ausgeführtes Allegro, scheint zunächst auf unser Thema keinen Bezug zu nehmen; es tritt aber im Verlauf des Satzes erst im Baß, dann in den Oberstimmen zu dem Allegrothema und stellt so die Verbindung her.

Der interessanteste Satz ist der 3., ein Andante in Es-dur, das überreich mit Vorhalten, Seufzern und mit differenzierter Dynamik ausgestattet ist, wie es dem empfindsamen Stil des preußischen Rokoko entsprach. Das war eine musikalische Sprache, die dem König zusagen mußte, - allein wieviel tiefer und echter ist sie, als der leicht empfindsame, galante Stil der Berliner Schule! Thematisch scheint der Satz mit dem Hauptthema des Musikalischen Opfers nichts zu tun zu haben, bei näherem Zusehen entdeckt man aber, das er aus dem Mittelteil des 1. Ricercars genommen ist.

Das Finale, ein fugiertes Allegro im 6/8-Takt, nimmt zu seinem Hauptthema das Kgl. Thema selbst, das nacheinander erst von der Flöte, dann von der Violine, zuletzt vom Baß vorgetragen wird. Ob diese Sonate in Sans Souci gespielt worden ist, wissen wir nicht. Eine Musik von so durchdringender Verstandesarbeit und Gefühlstiefe konnte die Generation einer Übergangszeit nicht verstehen. Auf die Herausforderung des Königs, er solle zeigen, was er könne, antwortete Bach in großartiger Weise mit 2 Fugen, 8 Kanons, einer Triosonate, alle über dasselbe Thema, er fand ein Meisterthema, zu dem wohl der König die Anregung gegeben hatte, das aber Bach selbst formte. Aus den ersten Noten dieses Themas ging drei Jahre später das Thema der Kunst der Fuge hervor. Beide Spätwerke Bachs, das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge, standen im 19. Jahrhundert dem Geschmack des Publikums und der Musiker zu fern, als daß sie hätten verstanden werden können. Erst unsere Zeit hat sie wieder in Besitz genommen, - ein Besitz, der nie mehr verloren gehen wird. Es war also doch eine Sternstunde der Menschheit!

Quelle:
Süddeutscher Rundfunk, 23.1.1964