1961 · Briefe aus Japan

Inhalt

Tokio, den 31. Oktober 1961

Liebe Familie!

Nun bin ich 24 Stunden hier, habe schon viel erlebt, aber zuerst berichte ich vom Flug, ehe andere Eindrücke das überdecken.

In Amsterdam starteten wir statt 13.00 erst 15.30 Uhr, ich war ärgerlich über das ewige Herumsitzen, auch war der Platz im Flugzeug sehr eng, ein enger Mittelgang, dann 3 Plätze links und drei rechts - ich hatte zum Glück die 3 Plätze für mich allein. Dann aber war der Flug sehr schön. Wir stiegen bald so hoch, daß man die weißen Wolken wie Wattebäuschchen unter sich hatte, ein paar weiße Wolkentürme ragten empor, sonst nur Bläue des Himmels. Um 17 Uhr wurde durchgegeben: 9200 m Höhe, 985 km/h, außen minus 50 Grad! Man flog absolut ruhig mit dem "Fliegenden Holländer", der größten holländischen Maschine. Um 18.15 Uhr war es noch taghell, um 18.30 Uhr in Island dunkel und trüb. Aufenthalt zum Tanken bis 20.00 Uhr. Dann weiter nach Norden, schwarze Nacht, nur ein ganz heller weißer Mond. 21.45 Uhr Abendessen (man kriegt es auf einem Tablett auf das Klapptischchen vor dem Sitz) dann schlief ich ein paar Stunden trotz unbequemer Schräglage!), als ich um 1.20 Uhr nach meiner Uhr aufwachte, (nach meiner Uhr!), schien die Sonne, aber von der anderen Seite!! Ich hatte den Nordpol verschlafen! Um 5 Uhr früh (meinte ich) landeten wir (planmässig) in Anchorage, dem größten Militärflughafen von Alaska. Hier waren 11 Stunden Zeitdifferenz: es war 18 Uhr am Abend vorher!! Wir mußten durch Schneewolken, um zu landen; es schneite, die Tragflächen waren voller Schnee, man konnte nicht weiter, mußte die Nach dableiben. Alles das wird nicht "bekanntgegeben", sondern die Stewardess erzählt es einem so nebenbei. Ebenso alles andere: wohin man geht, daß Abendessen im Flughafen sei, daß Omnibusse zum Hotel dastehen, wenn sie fahren etc., nie weiß man, wie man dran ist, man muß immer aufpassen. So stieg ich in irgendeinen Omnibus (einen falschen), traf Deutsche, die von Tokio nach Amsterdam wollten, und nach 10 km kamen wir in ein "Wirtshaus im Spessart", eine halbdunkle Wirtsstube, voll von Menschen; schließlich an einer Ecke der Theke verlangte ich "a Single room", sollte im Halbdunkel einen Zettel ausfüllen mit Name und Adresse, ein anderer tat's für mich, das Zimmer war im Hof zu ebener Erde, Eingang vom Hof, ich dachte, das ist ja eine richtige Bruchbude, aber siehe da, sie hatte Bad, Klo, Telefon, elektrische Heizung, tadellos, Preis 12 $ (zahlt die Gesellschaft, wie überhaupt alles). Dann Dinner in der Wirtsstube, ich wollte ein wenig essen, bestellte "ham and eggs" und bekam eine echt amerikanische Riesenportion, saß mit den Deutschen der anderen Richtung zusammen, auch ein Mädchen aus München mit langen Haaren war dabei, die Japanisch studiert. Dann hieß es, morgen früh 6 Uhr Abfahrt. Natürlich schlief ich ab 2 Uhr nicht, stand um 5 Uhr auf, schneidende Kälte, Pulverschnee, Gegend wie Schwarzwald, aber niemand außer mir auf. Laut Flüsterpropaganda war Abfahrt erst um 8 Uhr. Ich frühstückte mit dem Kapitän (das Personal war in meinem Hotel untergebracht), erfuhr, daß hier die Atombomber gegen Rußland bereit stehen, und daß die besseren Leute fast alle ein Sportflugzeug haben, wenn sie am Wochenende fischen oder jagen wollen. Im Flughafen wieder endlos warten. Ich sitze mit einem holländischen Ehepaar und einer Koreanerin zusammen, die in Buonas Aires im Teatro Colon den Parsifal gehört hatten (deutsch! - sie verstehen kein Wort deutsch!), aber er sei "too heavy and much too long"). Sonst keinen Anschluß: nur ein paar Deutsche, und die sitzen zu weit weg. Um 10.30 Uhr endlich Start, über den stillen Ozean in 8 Stunden nach Tokio. Wieder großer blauester Himmel, tief unten weiße Wolken, und wo Lücken sind, ist auch da die Atmosphäre blau wie oben.

Soviel für heute - morgen mehr. Euer viel an Euch denkender, aber schon halb japanischer Papa!

Tokio, 1. November 1961

Fortsetzung von gestern. Wir flogen von Anchorage nach Tokio 3 Stunden nach Westen, aber die Sonne blieb immer am gleichen Ort, als wir nämlich - mit 21 Stunden Verspätung! - ankamen, da war es nicht 18 Uhr sondern 13 Uhr! Ich glaubte, es sei Sonntag, erfuhr aber am nächsten Tag erst, daß es Montag war! Beides wäre an sich möglich, aber die Japaner haben es vorgezogen, uns statt 16 Stunden hintenach, 8 Stunden voraus zu sein. Jetzt ist es hier 10 Uhr morgens, bei Euch 2 Uhr früh.

Es gab noch ein festliches Mittagessen, dann Landung bei schönem mildem Wetter (so bis heute). Ein junger Mann nahm mich in Empfang; draußen warteten noch zwei junge Leute, es sind junge Klavierlehrer bei Fukui, die in Deutschland studiert haben, und die mich hier betreuen sollen. Alle drei gefielen mir, nette Burschen, mit Humor; von meinen 9 Vorträgen wird jeder 3 übernehmen zum Dolmetschen. Die Formalitäten waren kurz und schmerzlos, dann fuhren wir in der Limousine des Direktors 25 (!) km, durch öde, ärmliche Vorortstraßen und waren nach 45 Minuten im Parkhotel. Frau Fukui, die nur japanisch spricht, hatte ihrem Mann erklärt, ich sei ihr zu anstrengend, und mir ists auch lieber so. Das Hotel: 1. Ranges (aber nicht allerersten), ich habe ein bequemes Zimmer im 3. Stock Nr. 1310, mit Bad etc. und Aussicht auf Brandmauern (daher Parkhotel!?). Nun muß ich Euch, Andreas und Ulrich, gleich den Lift beschreiben, der ist prima, nämlich ganz ohne Boy. Man drückt auf den Knopf, dann kommt er, öffnet sich automatisch, schließt sich nach genau 5 Sekunden wieder automatisch, befördert dich, ohne daß du etwas zu machen brauchst, in 2 Sekunden in die Halle, öffnet sich und schließt dann wieder automatisch. Ich duschte, rasierte mich (es war nötig), dann kam Fukui, wir besprachen alles, ich sollte ausruhen, hatte aber das Bedürfnis nach frischer Luft und wollte etwas spazieren gehen. "Spazieren gehen? Ausgeschlossen, niemand geht hier spazieren, die Luft ist zu schlecht, der Verkehr zu groß usw". Also kam das Auto wieder, wir fuhren ins Zentrum und gingen in den Anlagen vom Kaiserpalast spazieren. Bis fast ins Zentrum ist Tokio unsagbar hässlich, dort wird es dann Weltstadt, erinnert an New York. Wir waren zu viert, es wurde dunkel, und ich hatte Lust, in einem echt japanischen Restaurant zu essen, - alles, nur keinen kalten Aufschnitt! Der Verkehr ist unbeschreiblich, Auto an Auto, nie sieht man eines halten, nie wird geschimpft, es sind nur wenig Verkehrspolizisten da, deswegen geht's so gut, meinten sie. Das Tollste ist aber, daß außerhalb der City nur ein paar ganz große Straßen Namen haben, Hausnummern gibt es gar nicht!! Man bezeichnet die Gegend, das Viertel, die Post findet es. Aber ein Fußgänger? Niemals! Daher darf ich höchstens einmal um das Geviert allein herumlaufen; außerhalb der Hauptstraßen gibt es keine englischen Schilder, so bin ich also ein Gefangener, der im Auto geholt und gebracht wird. Wie schön habt ihr es doch, daß ihr auf die Straße könnt, den Josephsbuckel rauf und runter! Nun, wir parkten in einer Tiefgarage im -3. Stock, auf den Straßen sausende, huschende, flimmernde Leuchtreklame wie in Amerika, dann das Restaurant, echt, aber elegant und teuer. Man geht eine enge Treppe hinauf, zieht seine Schuhe aus, setzt sich auf eine Matte vor einem niedrigen Tisch, für die Füße gibt es eine Vertiefung, es ist ganz bequem, dann kriegt man ein heißes Handtuch, um sich zu säubern und zu erfrischen. Vor dem Tisch erhöht thront der Koch, der in heißem Öl Fische und dergleichen brät und einem Stücke davon zuwirft (auf einem Teller natürlich) und dann heißt es, mit den zwei langen Holzstäbchen essen: das ist schwer, sage ich Euch! Ich hatte meistens "falschen Fingersatz"; ein Stäbchen muß feststehen, das andere sich leicht bewegen. Ich nahm in Zweifelsfällen einfach die Hand und bekam schließlich Messer und Gabel. Sehr guten und starken Reiswein (besser als den von Evi) gab's auch und japanisches Bier (seit Echterdingen - der Abschied war doch nett! - habe ich keinen Wein mehr gesehen). Ich war um halb neun wieder im Hotel und schlief mit kleinen Unterbrechungen 13 Stunden!! Frühstück: ich nehme das billigste (um 350 Yen); Grapefruitsaft, Eier und Schinken, Toast etc. und Kaffee. Dann ins Musashino College; 16 km, kreuz und quer in 50 Minuten, auch wieder durch Straßen mit Hochhäusern, dann wieder Hütten, alles ganz unorganisch, es sind eben mehrere zusammengewachsene Orte, Städte kann man kaum sagen. Dort sehr nett empfangen, der 84-jährige Großvater gibt mir die Ehre, sich zu mir zu setzen. Wir gehen durch die drei ganz modernen Gebäude, in denen es summt von Menschen und rattert von Klavierspiel. Also das sage ich Euch, so etwas habe ich in meinem Leben noch nie gehört wie zwischen zwei Gebäuden den Maschinenlärm von etwa 20 Klavieren, die gedroschen werden! Der große Saal, 1200 Plätze, wo meine Vorlesungen sein werden, ist schön, hat eine ganz neue große Orgel (84 Register, 4 Manuale), ich spielte drauf die g-moll-Phantasie, dachte, sollst du am Donnerstag selbst spielen, aber besser nicht. Mittagessen in der Mensa, wieder Stimmengewirr, 80 - 90 Prozent der Schüler sind kleine Mädchen - wirklich sehr kleine Mädchen. Der Orgellehrer, ein Japaner, kommt, spielt mir vor, recht anständig, also er macht das. Zurück ins Hotel, Dinner (Menue 1000 und 1300 Yen), dann kommen zwei meiner Erzengel, um den 1. Vortrag (morgen) und die Übersetzung zu besprechen. Das geht bis 22 Uhr, und ich schlafe natürlich sehr schlecht daraufhin. Heute Nachmittag wollen wir ans Meer, - vielleicht noch baden!!!

Ich schreibe alles so genau, weil ihr Euch nur so ein Bild machen könnt. Gestern drückte mir Fukui ein Kuvert mit 30.000 Yen (360 DM) für eventuelle Auslagen in die Hand. Also schreibt, was ihr für Wünsche habt! Ich fürchte, daß meine Vorträge die kleinen Mädchen nicht sehr interessieren werden -, Mersmann ließ sie einfach spielen und sagte ein paar gütige Worte, so ähnlich werde ich's wahrscheinlich auch machen, also nicht oder fast nicht selber spielen. Morgen ist Tonkünstlerversammlung, da werde ich, auf Rat meiner jungen Leute, meine Hörer so ansprechen; Mi' nassan ko' nnichiwa ! Watakushiwá Keller des! das heißt: Hochansehnliche Versammlung! Ich (bin oder) heiße Keller!

Die Sonne scheint warm ins Zimmer, vielleicht können wir doch baden, denkt: im Stillen Ozean!! Jetzt aber Schluß! Der nächste Brief kommt nicht vor übermorgen!

Euer Männle und Papa.

Tokyo, Freitag, den 3. November 1961

Liebe Familie!

Ich setze meinen Tagebuchbericht für Euch fort. Vorgestern nach Tisch fuhren wir - zwei meiner Begleiter und ich - also auf meinen Wunsch ans Meer. Ich wußte nicht, daß es 90 bis 100 km entfernt ist! Zunächst wieder nur links und rechts Schuppen, Fabriken, usw. dann ein paar Hügel, Natur und endlich waren wir in Long Beach, dem Hauptbadeort von Tokyo, mit Hotel. Der Badebetrieb war natürlich längst geschlossen, das Hotel auf, ich konnte also baden. Sehr salzig, ein paar Mal warf mich die Brandung um, aber wärmer als Taormina im April. Der Sand dunkel und körnig, nicht schön. Schön war's natürlich doch! Nachher tranken wir Kaffee in der Halle. Da hat man einen sehr schönen Durchblick auf die sehr schönen japanischen Kiefern und das Meer. Hier fühlte ich zum erstenmal wieder Natur! Dann zurück und diesmal im japanischen Vergnügungsviertel in ein ganz japanisches Restaurant. Es hatte in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit dem arabischen Haus in Kairo. Alles dunkles Holz, hoch, der Raum durch Papierschirme abgeteilt, wieder zieht man seine Schuhe aus, ganz niedere Tische, man sitzt auf einer Matte - aber diesmal ohne Vertiefung für die Füße! Die andern kreuzen sie, ich strecke sie lang aus, was grade noch geht. Ein Gasschlauch führt auf den Tisch unter eine Pfanne. Darin ist Soya-Öl und Anderes, man wirft Fleischstückchen hinein, hat vorher in einem Schälchen ein rohes Eigelb mit den zwei Stäbchen zerkleppert, aus dem Schälchen ißt man. Es schmeckt ausgezeichnet, dazu wieder Reiswein in winzigen Tässchen. Nachher noch ganz milden, sehr guten Reis. Den konnte ich nicht mit Stäbchen essen!! Das japanische Vergnügungsviertel ist reizend. Überall bunte Lampen, winzige Kabaretts, alles sehr dezent und nicht ordinär. Aber: Geishas gibt es seit zwei Jahren nicht mehr - der Beruf wurde aufgehoben! Wir schlendern noch ein bißchen, dann Heimfahrt.

Gestern ein anstrengender Tag. Schönstes, sonniges Wetter. Ich gehe hier ohne Mantel, ohne Hut, ohne Weste, schlafe nackt!

Um 10 Uhr holte mich der Chauffeur, der Driver, wir fuhren wieder 45 Minuten, aber alles kam mir anders, hübscher vor. Machte es nur die Sonne? Ich sah mit einem Male, wie hübsch die wie aus Schachteln zusammengesetzten japanischen Holzhäuschen sind, weil jedes, aber auch jedes, anders ist als das andere. Kurz, nun fing auch Tokyo (sprich: Tókcho) an, mir zu gefallen. Wir fuhren breite Straßen, dann wieder Gartenwege, kreuz und quer, nie könnte ich diesen Weg finden! Von 11 bis 12 Uhr Übersetzungsprobe im Saal. Ich merkte, daß auf japanisch - in der Sprache der Gebildeten - alles etwa doppelt so lang ist wie in Deutsch. Mittag in der Mensa, dann ging's um 13 Uhr an. Ich stellte mich auf ein etwas primitives Publikum ein, sah aber nachher, daß auch Universitätsprofessoren da waren, ich entschuldigte mich, sie waren (natürlich!) sehr nett. Abgesehen davon ging alles gut, Fukui schien zufrieden. Nachher Empfang in der Mensa, interessante Gespräche, teils englisch, meist deutsch, aber sehr anstrengend. Als wir um 18 Uhr ins Konzert von Kempff fuhren, war ich todmüde.

Das Konzert war großartig. Beethoven, die 3 ersten Klavierkonzerte. Sehr schöner Saal, etwas klassizistisch, für 3000 Personen. Ich saß Galerie 1. Reihe neben Frau und Tochter Kempff. Das ganze Konzert hat Fukui gemanagt. Ganz großes Orchester, Kempff spielte hervorragend. Nachher begrüßte ich ihn. Er ist schon vier Wochen mit Familie hier, aber im Oktober sei die feuchte Wärme erschlaffend gewesen, ich hätte die beste Jahreszeit erwischt. Am nächsten Donnerstag gibt Fukui eine party für seinen Abschied und für meine Ankunft (das letztere nebenbei!). Ich wurde in eine Taxe gesetzt, das Hotel/Restaurant war schon geschlossen, ich aß einen großen aromatischen Apfel, und sank ins Bett. Das Konzert, wie alles andere hier, begann um 18.30 Uhr wegen der großen Entfernungen. Als ich heute morgen auf die Uhr sah, war es 9.10 Uhr und ich mußte unrasiert hinunter, da es nach 9.30 Uhr nichts mehr gibt!

Nächste Woche sind meine Vorträge am Montag, Mittwoch und Freitag, ebenso übernächste Woche, dann kommt die Reise nach Kyoto und Nara.

Ich frage gar nicht, wie es Euch geht, was soll ich auch, aber ich freue mich sehr auf Mamas ersten Brief. Ihr könnt hierher oder nach Musashino schreiben. Ich denke, der Haushalt ist doch einfacher ohne mich!!

Alles Liebe! Euer Gatte und Vater!

Dienstag, den 7. November 1961

Liebe Familie!

Gestern war also mein erster Vortrag. Es war zugleich der Tag des jährlichen Schulfestes, sehr viel gleichzeitig: eine Delegation von Iran, ein politischer Vortrag über die Berlinkrise, ein italienischer Sänger usw. usw., so daß mein Vortrag im kleinen Saal (220 Plätze) sein mußte, der übervoll war. Alles ging sehr gut, ich habe nun den Kontakt gefunden. Das alles, Lehrer, Schüler, Vorlesungen usw., das ist ja ganz wie bei uns, - es wird an den Musikschulen in Tokyo keine japanische Musik gemacht. Aber nun hatte ich wieder einen ganz großen Eindruck: in einer Wandelhalle hatten die Schülerinnen Schalen mit Blumen, Zweigen, Gräsern ausgestellt, das war zauberhaft. Was sind wir Europäer doch plump dagegen! Dann war zum Abschluß Ball der Schüler, aber im Straßenanzug, in einer Halle mit Bretterboden. Natürlich habe ich getanzt, und natürlich war ich der einzige alte Herr! Aber so was gefällt mir ja und war sehr nötig als Gegengewicht. Man gab mir vier junge Mädchen nacheinander, - die vierte war die richtige, bei der blieb ich - sanft, sittsam aber schelmisch -, wir tanzten gut zusammen. Ich verstand ihr Englisch nicht (bei dem Krach), sie das meine nicht, aber das machte nichts. Ich lud sie zum supper in die Mensa ein, dann war Verlosung, und dann fuhr ich in mein neues Heim, von wo ich jetzt schreibe. Fukuis Haus ist eine Mischung von japanisch und europäisch, Schiebewände, aber sonst wie bei uns, nur alles niederer. Ich habe ein Appartment mit Klo und Dusche, Schlaf- und Musikzimmer. Da sitze ich eben in der warmen Frühlings-Sonne an einem niederen Tischchen, kann die Beine nicht strecken, aber alles ist reizend zu mir, auch Frau Fukui. Ich muß auch an die Heimreise denken: mit der Lufthansa über Süd-Asien am ersten Tag nach dem 30. November, an dem ein Flugzeug von hier geht. Links von meinem Tischchen ist eine große Schiebetür in den Garten (nur Rasen, mit zwei kleinen Hunden), in dem ich nachher sitzen werde. Mein Koffer ging schon jetzt kaum mehr zu, - ich kaufe einen kleinen, und tue da alles hinein, und sende es per Schiff heim. Sonst reicht der Raum für die Mitbringsel nicht!!

Fukuis Familie ist reizend zu mir. Ich war gestern zum Abendbrot (kalter Aufschnitt und Bier!) bei ihnen, zwei Kinder, ein Mädchen von 17, Nauko, nett, ja hübsch, ein Junge von 15, verschlossen und mißmutig. Ich zeigte ihnen ein paar Zahlenspiele (Send more money u.a.). Ich war doch so begeistert von den Blumenschalen im College, - und heute steht eine prachtvolle in meinem Zimmer! Wieder ist Sonne und Frühling! Sonst verlaufen jetzt die Tage etwas regelmässig und nicht aufregend bis zu meiner Abreise am Samstag nach Osaka, Nara, Kjoto (wo Kauffmann ist) und Kobe, - NB. das sind fast alles Städte mit einer Million Einwohner!

Ohne mehr Schluß für heute. Ich umarme Euch! Euer Papa

Nara, Sonntag, den 12.11.1961

Liebe Familie!

Es ist Sonntag, aber von Sonntag merkt man in Japan nichts! Ich setze meinen Bericht fort. Freitag war Kempffs Abschied von Musashino. Wir assen zusammen, hatten Gespräche über Musik, zu denen wir in Deutschland nie Zeit hätten, dann spielte er Orgel (das Es-dur -Präludium, aber wie!! eben total unvorbereitet), dann Schubert a-moll-Sonate, über die wir bei Tisch gesprochen hatten - diese sehr schön. Der Beethovensaal war überfüllt, dann war meine Vorlesung 3 bis 5 Uhr, Wohlt. Kl., da waren auch 800 bis 900 Leute, dann war Party für die deutschen Musiker in Tokyo zum Abschied von Kempff in Musashino, dann waren wir abends, die drei Kempffs und ich, bei Fukui.

Gestern begann nun meine 5-tägige Bildungs- und Ferienreise. Zunächst wieder 80 Minuten Auto zum Flugplatz, scheußliche Vorstadtgegend, dann bequemer Flug in knapp 2 Stunden nach Osaka, das "nur" 6 Millionen Einwohner hat und noch hässlicher ist als Tokyo. Dort nehmen wir - der junge Fukui und ich - eine Taxe, fuhren etwa 80 km. weit zu einer berühmten altbuddhistischen Tempel und Klosteranlage, mit 5 Tempeln (Pagoden) usw. Ein paar Schulklassen wurden durchgetrieben, und auch der junge Fukui empfindet keine Ehrfurcht mehr vor diesen Zeugen religiöser Vergangenheit. In den Schulen darf keine Religion gelehrt werden, nur indische Philosophie und Geschichte der Welt-Religionen. Es gibt in Japan etwa 80% Buddhisten, (aus Gewohnheit), 15% Shintoisten (die den Kaiser für einen Gott halten), und 5% Christen, keine Mohammedaner. Ich glaube, daß ich vom Buddhismus viel mehr wissen müßte, um das alles zu verstehen. Es ist andauernd milder Spätsommer, aber ohne Farben.

Dann, wieder mit Taxe, etwa 10 km nach Nara. Das liegt in schönen Kiefernwäldchen und Seen; unser sehr komfortables Hotel liegt auf einem Hügel, schöne Aussicht, Stil ähnlich einem Schwarzwaldhotel. Wir sprachen abends noch über das Leben in Japan. Die Familien sind intakt, die Ehen meist glücklich, es gibt kaum Scheidungen, auch kaum uneheliche Kinder, die Mädchen sind brav und sittsam. Man sieht auf den Straßen keine schreiende Reklame - außer in der City von Tokyo -, es gibt keine Illustrierte mit pin-up-Girls auf der Titelseite, auch die Kinos machen wenig Reklame, Europa wirkt dagegen plump und auch degeneriert. Mir wird jeder Wunsch an den Augen abgelesen. Ich reise wie ein Prinz, ohne Geld, das Fukui verwaltet!

Heute waren wir im buddhistischen Museum. Nur sakrale Kunst, z. T. sehr ähnlich der christlichen. Fast nur Buddhas, den größten Eindruck machte mir ein schlafender Buddha vor dem Eingehen ins Nirwana, und ein großes Bild, das Nirwana darstellend, eine Art Paradies-Landschaft. Auch da hatte ich den Eindruck, daß die (wenigen) Besucher das alles ziemlich kühl betrachteten. - Die Landschaft ist schön, - aber es gibt keine Fußwege, es ist wie in USA, man fährt irgendwohin und ist dort, fährt wieder weg, - kein Reussenstein!! Aber seit dem Museum verstehe ich doch von Japan etwas mehr als vorher! Heute Nachmittag weiter nach Kjoto, einer Kleinstadt mit nur 1 Million Einwohner!

Viele herzliche Grüße! Euer Vater

Kyoto, Montag, den 13.11.1961

Liebe Familie!

Nun bin ich in einem ganz japanischen Hotel, und das muß ich Euch doch beschreiben. Natürlich zieht man am Eingang Schuhe aus, geht in Strümpfen, dann sieht man kein Restaurant, keine Gäste, man wird durch Holzkorridore in die Zimmer geführt. Ich bewohne einen Vorraum mit Eingang ins Bad und Klo, dann mein Zimmer, mit Schiebewänden, fast leer, ein niederer Lacktisch für 2 Personen in der Mitte, zwei Matten mit Rück- und Seitenlehnen sind da, dann eine Art Loggia, auch mit Schiebewänden abgeteilt, Glaswand, dahinter im Lichthof ein kleiner japanischer Garten. Es klopft, die Schiebewand wird zur Seite geschoben und da kniet der Besitzer des Hotels, stützt die Hände auf den Boden und verneigt sich fast zur Erde. Fukui steht auf und tut dasselbe (ich nicht)! Beim Essen werden wir von zwei knieenden Frauen im Kimono bedient. Es gibt eine scharfe Suppe mit Muscheln, dann Krebse mit Salat, dann kommt wieder Gasschlauch, der Kessel auf den Tisch, und es wird gebrotzelt. Nachher noch Obst und Reiswein. Zur Nacht wird der Tisch beiseite gestellt, zwei große Matratzen werden auf den Boden gelegt, Steppdecke darüber, man schläft sehr gut, denn durch einen Schacht kommt frische Luft hereingeblasen. Vorher ein warmes Bad, in einem viereckigen Holzzuber, in den man hineinkauert.

Gestern Nachmittag noch viel Schönes in Nara gesehen, aber davon später, wir werden abgeholt, ich muß schließen.

Tausend Grüße! Euer Papa

Osaka, Mittwoch, den 15.11.1961

Liebe Familie!

Ich habe ein paar Tage nicht geschrieben, und muß nun nachholen. Am Sonntag Nachmittag in Nara, waren wir im berühmten Volkspark, schöne Kiefern, zahme Hirsche, etwa 2000 Steinsäulen, in die man oben Lichter hineinstekken kann, viele Menschen, alle ruhig und vergnügt. In Nara ist auch ein Tempel mit einer 16 Meter hohen Buddha-Statue aus Bronze aus dem 7. Jahrhundert, - auch hier sah ich bei den Besuchern nur Neugierde, es ist eben eine Sehenswürdigkeit. Dann wieder Taxe 40 km weit nach Kyoto, dem alten Kaisersitz und Zentrum des Buddhismus. Das Hotel habe ich schon beschrieben, ich bekam zum Abschied noch ein Geschenk: zwei Teetassen und ein kleines Tuch!

Der Montag brachte mir das erste wirkliche Landschaftserlebnis in Japan. Ein sehr großer kaiserlicher Park an den Berg gelehnt, man wird geführt, etwa anderthalb Stunden. Da ist Natur und Kunst wunderbar verflochten. Überall kleine und größere Pavillons, die einen besonders schönen Blick auf einen Teich, eine Wiese, eine Baumgruppe haben, nur Kiefern, aber uralte sehr hohe Bäume, dann kleine geschnittene, schöner Fernblick, bei dem man gar keine Häuser mehr sieht. Die Pavillons selbst leer, mit Matten wie alle japanischen Zimmer. Es hatte - zum ersten Mal! - etwas geregnet, war kühl, aber schöne Farben. Nachmittags ein anderer kleinerer kaiserlicher Garten, künstlicher angelegt, der mir nicht so gefiel. Dann gingen - fuhren - wir zu Kauffmann, er war noch nicht da, wir hörten eine Probe des Schulorchesters, wo ein 13-jähriger Bub das Mozartsche Violinkonzert in D-dur recht gut spielte. Dann mit Kauffmann in ein japanisches Tanztheater, wo Stücke getanzt wurden, deren Inhalt und Bedeutung ich natürlich nicht verstand. Dann Abendessen mit ihm, noch in seiner Wohnung. Er bewohnt neben der Schule ein Einfamilienhaus mit 4 Zimmern und Garten, ist restlos glücklich über seine Arbeit und seine Erfolge, hat auch schon so viel Japanisch gelernt, daß er damit und mit seinem schul-englisch eine Probe halten kann! Er verdient etwa 2.500 Mark im Monat und weiß nicht, wie er das verbrauchen soll!

Gestern Dienstag wieder Wechsel der Szene. Wir fuhren gegen Mittag von unserem gastlichen japanischen Hotel ab nach Kobe, wo ein amerikanisches Mädchen-College ist, das auch eine Musikabteilung hat, dort sollte ich einen Vortrag halten. Wieder Taxe, 50 km weit, meist durch Industrielandschaft und öde Vorstädte. Nach vielem Fragen finden wir den schön gelegenen Hügel, der zu einem Park umgestaltet ist, in dem die Gebäude des College liegen. Von da ab waren wir in einer amerikanischen Missions-Station. Der Kontrast war erheiternd. Alles war amerikanisch der Mr. Präsident, der Direktor, bei dem wir amerikanisch lunchten, - ein Abstieg nach dem japanischen Essen, dann besahen wir den kirchenartigen Saal, der etwa 800 bis 1000 Personen faßt, aber zum Vortrag waren nur etwa 60 bis 80 da, das music-Department ist klein, der Saal war nicht geheizt, die Mädchen saßen stumpf da, kurz es war nix! Fukui und ich nanmen die Sache von der heiteren Seite. Dann nach Kobe in ein Konzert, das Kauffmann gab. Es war zum Jubiläum einer Schule, also kein musikverständiges Publikum, wir hörten Händel und Mozart. Jupiter-Symphonie, recht anständig gespielt, und gingen dann, d.h. natürlich wieder wir fuhren, mit Taxe nach Osaka, der Millionenstadt. Dort ins Grand Hotel, wir bewohnen ein Zimmer im 10. Stock, höchster Komfort, prachtvolle Aussicht auf den Fluß und dahinter die Wolkenkratzer, zwischen denen auch kleine japanische Häuser stehen, schönes Wetter, alles von da oben großartig und malerisch. Es ist wie New York. Eben sitze ich am Fenster und tippe, während Fukui meinen Vortrag über die Suiten Bachs mal durchliest. Eine verrückte Welt, aber schön, wenn man im Grand Hotel wohnt. Heute Nachmittag geht es mit dem "Super-Expreß" nach Tokyo zurück; und morgen dann weiter im Bericht! Immer wenn ich morgens an Euch denke, um 9 Uhr, dann ist's bei Euch 1 Uhr früh, also keine Verbindung!!!

Seid herzlich gegrüßt Euer Papa

Tokyo, Sonntag, den 19.11.1961

Liebe Familie!

Heute ist ein Tokyoer Sonntag: man bleibt zu Hause. Heute morgen von 10 bis 13 Uhr spielten mir die Schüler und Schülerinnen vor, die morgen, in der Vorlesung die Suiten und Partiten spielen. Herr und Frau Fukui waren auch dabei, es war sehr anregend, ich konnte und durfte eine Art von Meisterklasse abhalten (bei Fukuis), sagen und zeigen, was ich anders haben möchte usw.. Dann das erste Mittagessen bei Fukuis. Die Kinder nicht da, also nur wir drei. Gute Hausmannskost wie bei Euch. Gabel und Messer! Jetzt bin ich den Nachmittag frei, gehe vielleicht ein wenig auf der Straße spazieren nachher. Die nächste Woche ist stark belegt: Montag die Suiten und Partiten, Dienstag nur für die Lehrer über Ornamentik, Mittwoch Italienisches Konzert u. a., Donnerstag nichts, Fr. Wohlt. Klavier II. Letzte Woche: Montag Goldbergvariationen u.a., Mittwoch Zusammenfassung: "Wie soll man Bach spielen?", anschließend Colloquium für die japanischen Organisten, Donnerstag mein Vortrag im deutschen Kulturinstitut über Händel, Samstag Nachmittag Vortrag für die japanischen Schulmusiker und abends Abflug. Dazu kommen nun noch natürlich Einladungen u.a., also die Zeit wird nun schnell vergehen!

Meine Reise nach Nikko: Eigentlich hatte ich keine große Lust, nun gleich noch einmal zu verreisen, aber Fukui bestand darauf, und ich habe es nicht bereut.

Nikko: es heißt, wer Nikko nicht gesehen habe, der könne nicht sagen, daß er das Schönste in der Welt gesehen habe. Ich glaube fast, es stimmt. Wir fuhren mit dem "Romantischen Luxus-Express" in 2 Stunden hin. Da beginnt das Gebirge. Nikko liegt etwa 800 m hoch, der Ort ist häßlich wie alle diese Orte, die aus Garagen, Omnibus-Parkplätzen, Andenken-Läden u.a. bestehen. Wir nahmen eine Taxe auf 4 Stunden und fuhren in den Tempelbezirk. Denkt Euch Wald wie Schwarzwald, aber Zedern, bis zu 30 m hoch, alle ein paar hundert Jahre alt, - großartig. Große Alleen führen zu den Tempeln, die aus dem 17. Jahrhundert sind. Japanisches Barock, sagt Fukui. Aber es ist natürlich doch anders. Man durchschreitet mehrere offene Tore. Eines davon heißt das "Tor der Dämmerung", weil man den ganzen Tag, bis zur Dämmerung, es besehen kann, so viel ist darauf zu sehen. Ich habe mir zwei englische Beschreibungen gekauft, ohne die versteht man überhaupt nicht, was alles bedeuten soll. Ich beschreibe es im Einzelnen nicht, sondern zeige Euch die Abbildungen zu Hause. Der überwältigende Eindruck - der Ägypten noch übertrifft -, wird nur beeinträchtigt durch die Massen Volks, - japanische Reisegesellschaften, Schulen usw. - die rudelweise durchgetrieben werden. Und das jetzt, wo keine Reisezeit mehr ist, wie mag das erst im Sommer sein!! Zu Mittag in einem amerikanischen Hotel, dann eine Straße, ähnlich der Silvrettastraße in 48 Serpentinen allmählich hoch auf 1350 m. Da liegt ein See, ähnlich dem Vierwaldstättersee, von Waldbergen umgeben, die bis 2800 m aufsteigen. Sehr schön. Aber auch hier wieder der abstoßende Fremdenbetrieb, dessen Schalen man sieht, auch wenn fast keine Fremde mehr da sind. Wir - mein junger Führer Igida und ich - wohnen im einzigen europäischen Hotel als einzige Gäste!!, zahlen 25, mit Abgaben 30 Mark für das Bett! Auch ein Spaziergang auf der unaufhörlich von Omnibussen befahrenen Straße ist nicht sehr lohnend. Abends heißes Bad und bald ins Bett. Das Wetter hat umgeschlagen, es regnet etwas, ist aber warm, - bei der Höhe! Das war Freitag. Gestern, Samstag, nach dem Frühstück absolvierten wir die Hauptsehenswürdigkeit, einen 100 m hohen Wasserfall. Das geht so vor sich; man geht zu Fuß zum Omnibushalteplatz. Dann Omnibus (z.T. in Tunneln) zum Lift, in dem man mit 50 anderen Leuten 100 m tief hinuntersaust, dann zu Fuß in Tunneln abwärts zu Terrassen in drei Stufen, von denen aus man den Fall etwa 100 m entfernt sehen kann. Überall Andenkenverkauf, überall steht ein Japaner und knipst sein Mädchen oder seine Freunde. Das Wetter lockte nicht zu weiteren Gängen, daher wieder hinunter (mit Seilbahn, Bergbahn und Straßenbahn!) nach Nikko, das in einer Nebelwolke lag, und zum zweiten Mal die Tempel besichtigt. Ich hatte abends im Hotel die Führer durchgelesen und verstand nun schon viel mehr davon. Wegen des schlechten Wetters waren auch weniger Leute da, so daß man manchmal einen Begriff von der Erhabenheit dieses Zusammenklangs von Natur, Kunst und Religion haben konnte. Ich habe etwas so Großartiges, Sakrales überhaupt noch nie gesehen. Mein liebes Mädchen, wenn ich noch einmal eingeladen werden sollte, nach Tokyo zu kommen, dann mußt Du mit, das muß und wird dann gehen! Dann habe ich auch selbst noch viel mehr davon. Schluß! Gruß! Kuß! Dein Gatte

Tokyo, den 23.11.1961

Liebe Familie!

Ich will doch für Euch und mich mein Tagebuch fortsetzen. Gestern Nachmittag war die Vorlesung, vor der ich etwas Lampenfieber gehabt habe. Es ging aber alles gut. Ich spielte auswendig vom Italienischen Konzert den 1. und 2. Satz und die Chromatische Fantasie (ohne Fuge). Es ging alles gut, Egger war auch da! Nachher mußte ich auf dem Podium bleiben, Fukui kam herauf und hielt eine japanische Rede auf meinen Geburtstag, ich bekam einen riesigen Strauß mit Rosen und Chrysanthemen, dann eine Stunde Ruhe (war nötig), dann zum Bruder von Fukui zum Dinner. Seine Schwester schenkte mir - auch zum Geburtstag! - ein Bambus-Tablett, er selbst (der Bruder, - der Lehrer an der kaiserlichen Akademie ist), eine japanische Papierlaterne (für Immenstaad!), und die ganze Familie ein wunderschönes Lackkästchen für Dokumente u. ä.. Ich werde wahrscheinlich ein Gepäckstück mit Schiff schicken müssen und zwei mitnehmen!!

Dann das Essen. Frau Fukui und ihre beiden Töchter nahmen nicht daran teil (!), sie waren in der Küche! Herr und Frau Egger und noch ein junger Japaner und eine Dame aus Kyoto (550 km entfernt), die angeblich zu meinen Vorlesungen hergekommen ist, waren noch eingeladen. Man sprach deutsch, französisch, englisch und japanisch durcheinander. Es gab zuerst Suppe mit Wachteleiern, dann Seezunge mit seltenen Pilzen, usw., dazu Rheinwein und französischen Rotwein, später Portwein. Es war also exquisit, aber ihr braucht keine Angst zu haben, das Essen in der Lohengrinstraße wird mir herrlich schmecken! Mit Egger sehr angeregte Unterhaltung, er ist doch ein sehr gebildeter Musiker und Mensch. - Alle Häuser hier haben als Heizung nur elektrische Heizsonnen und Petroleum-Öfen, es darf also nicht sehr kalt werden.

Heute, 23., ist japanischer Feiertag, Erntedankfest, d.h., eben ein freier Tag. Von 10 bis 12 Uhr war wieder Vorspiel bei mir, dann geht's heute zu Mittag in ein elegantes Park-Restaurant. Morgen weiter.

Samstag Vormittag. Nicht viel zu berichten. Am Donnerstag aßen wir zu dritt, das Ehepaar und ich (die Kinder wurden nicht mitgenommen!) in diesem wunderschönen Parkrestaurant (das "mittlere" Menue um 12 Mark) dann zu Hause, ich spielte Klavier (nicht Bach!) Abends gemütlich mit Fukui. Gestern Freitag, Arbeitstag.

Heute Nachmittag geht's in eine Kunstausstellung, morgen Tagesausflug, - und dann sind die Tage und Stunden ziemlich besetzt. Vielleicht schreibe ich noch mal, vielleicht nicht, jedenfalls soll dieser Brief heute noch weg, daher Schluß! Kuß! (bald nicht bloß brieflich!)

Euer Papa und Männle!

Tokyo, den 27.11.1961

Liebe Familie!

Ich setze den Tagebuchbericht fort, wenn er auch vielleicht nicht mehr abgeschickt wird.

Samstag, den 25. Nachmittag, im Ostasiatischen Museum, große Säle, kalt, schlechtes Licht, aber vieles Große. Ich habe einen Bildband gekauft (d.h. mir schenken lassen). Wieder Vergleiche mit dem Christentum. Da ist ein Hl. Michael, der einen Drachen zertritt, ein Richter der Unterwelt mit Schwert und Waage, hinter dem - in Holz geschnitzt - die Höllenflammen lodern, da sind die Lieblingsjünger von Buddha, wie die Jünger Jesu. Wunderschönes Porzellan, das kann man nicht beschreiben. Große, weite Parkanlagen um das Museum. Dann Fahrt durch die Geschäftsstraßen mit ihrer bunten Lichtreklame, Fukui getroffen, und nach dem Abendessen - japanisch - in die "türkische Botschaft", d.h. in das türkische Bad. Man wird einem barfüssigem Mädchen übergeben, in ein Zimmer geführt, zieht sich ganz aus, wird in einen Holztrog mit Heißluft gesetzt, dann sehr warmes Bad, dann wird man abgeseift, abgetrocknet, und ausgiebig massiert.

Gestern Sonntag, ein sehr schöner - letzter Ausflug mit zwei meiner jungen Leute (Fukui konnte nicht mit), mit denen ich mich schon richtig befreundet habe, ans Meer. Wieder 2 Stunden Fahrt mit Auto durch ödes Industrie-Gelände, dann fängt das an, was man Gegend nennen könnte, dann bei strahlender Sonne und Wärme an den Strand. Mittagessen in einem Terrassen-Restaurant, Ausblick auf vorspringende Halbinseln usw., ganz wie die Riviera Genua-Rapallo. Ich war ganz verzaubert. Dann weiter auf einen Hügel, wo eine der ältesten und berühmtesten buddhistischen Kult-Stätten ist. Ich habe von allem Beschreibungen, daher erzähle ich hier nichts. Hier sah ich unter Scharen von gleichgültigen Sonntagsausflüglern auch eine Frau, die vor dem Hochaltar - wieder; welche Ähnlichkeit mit dem Christentum! - betete. Weiter zu einer Riesenstatue von Buddha im Freien. Auch sie hat dieses rätselhafte unergründliche Lächeln, sehr schön, trotz der abnormen Größe. Dann wieder ans Meer, auf eine Halbinsel, die mit dem Festland durch eine Brücke von 1500 m verbunden ist. Man geht dort eine enge Andenkenstraße links und rechts Läden mit Kruscht, hinauf und hat einen schönen Blick. Es ist schon Nacht, die Restaurants sind leer. Wir fahren heim, essen in Tokyo in einer kleinen Kneipe billig und gut (Hummer etwa 1.20 DM!) und noch eine gemütliche Stunde bei Fukui.

Ich freue mich mehr als je auf Euch, - und gleichzeitig tut es mir mehr als je leid, Japan schon verlassen zu müssen!!!

Die Vorlesung, in der ich das Ricercare spielte und vier junge Lehrer und -innen sich in die Goldbergvariationen geteilt hatten, ging gut. Nachher besichtigte ich die Sammlung ostasiatischer Instrumente, die das Musashino besitzt: aus Tibet, Indien, Korea, China und Japan selbst. Aber diese Musik ist dem heutigen Japaner fast ebenso fremd wie uns Europäern. Dann Orgel geübt (!) für morgen, und anschließend zu Egger. Seine junge Frau holte mich in ihrem eleganten Auto ab. Er wohnt sehr schön, in einem halb japanischen, halb spanischen Stil, wir hatten interessante Gespräche, das Abendessen war fürstlich. Zu dritt wurde nur französisch gesprochen. Er war den Sommer im Norden Japans, aber auch da wirft der Tourismus schon Massen von Menschen hin, so daß sie heimwärts zogen, und er 5 Wochen an einem Buch über Pädagogik des Klavierspiels arbeitete.

Dienstag, 28.11.,

Vormittag gearbeitet. Am späteren Nachmittag sahen wir ein Noh-Spiel, das älteste japanische Theater. Es ist so alt und fremd, daß auch der heutige japanische Hörer es kaum mehr verstehen und nachempfinden kann. Ich habe eine Beschreibung. Ich will nur den Inhalt eines "heiteren" Einakters erzählen: Ein Arzt geht über Land, um eine neue Praxis zu suchen, da in Kyoto schon zu viele Ärzte sind. Er wird von einem Gewitter überrascht, d.h. der Donnergott, grell aufgeputzt und mit Lärminstrumenten behangen, tanzt wie wild auf der Bühne, fällt hin und verrenkt sich die Hüfte. Der Arzt soll ihm helfen. Der hat aber keine Arzneien bei sich. Er untersucht den Gott, und treibt ihm dann einen langen Nagel in die Hüfte. Der Donnergott wird wieder gesund. Er soll bezahlen, hat aber kein Geld, dafür verspricht er, künftig für das Wohl der Menschen zu sorgen, so daß keine Krankheiten mehr entstehen. Aus!

Nachher fuhren wir in ein deutsches Restaurant, hörten Schallplatten deutscher Volkslieder und Schlager, - dieser Kontrast!! Nach Hause, Fukui ist noch auf, schenkt mir einen Morgenrock für nach dem Bad!

Mittwoch, 29.11.

Meine letzte Vorlesung im Musahino College. Ich hatte etwas Herzklopfen, weil ich sie ganz allein bestritt, aber es ging über Erwarten gut. Vortrag gut, es waren etwa 900 Leute da, ich spielte auswendig und fehlerlos die c-moll-Fantasie, dann auf der Orgel (!) ebenfalls auswendig (!) die g-moll-Fantasie und das Pastorale. Einmal verließ mich für 2 Sekunden das Gedächtnis und ich mußte schwimmen, - sonst ging auch das tadellos! Nachher Rede von Fukui, Blumen, vier Hervorrufe!

Nach einer kleinen Pause ging es weiter im kleinen Saal. Da wollten die Organisten von Japan etwas von mir hören über die deutsche Orgelbewegung usw.. Dann dachte ich, es sei nun fertig, aber dann gaben sie mir noch eine "Party" in der Mensa, mit Bewirtung für etwa 50 Personen. Dazwischen fortwährend Autogramme. Dann Abends noch bei Professor Cadow, dem Chorleiter, eingeladen, um 9 Uhr heim und ins Bett! !

Gestern Freitag, den 1.12.,

zum ersten Mal ein Regentag. Ich hatte 10 bis 12 Uhr einen Vortrag über das W.Kl. in einem anderen College, mit nur Mädchen. Wir waren etwas skeptisch, aber der Saal war ganz voll. Fukui übersetzte, ich spielte und eine Schülerin, ich war in Stimmung, es war gut. Nachher mit der Direktorin, Herrn und Frau Egger und einer Ungarin, die eigentlich hätte übersetzen sollen, aber froh war, daß sie es nicht mußte, in einem eleganten japanischen Restaurant. Stellt Euch eine große Ananas-Scheibe vor. Innen hantierten drei Köche, außen saßen die Gäste (nicht nur wir, der Kreis war für etwa 30 Personen gedacht). Es gab 11 Gänge, lauter kleine Leckerbissen, dann noch im Salon des Restaurants Obst. Abends war mein Abschied von Fukuis. Es war eine von Fukui bestellt Geisha-Party. Wir saßen - Fukuis, meine 3 Übersetzer und ich - im 2. Stock eines weitläufigen Restaurants in einer Art Saal, japanisch auf Kissen. Während des Essens kamen in Kimonos einige Mädchen, setzten sich zu uns, ich wurde (natürlich!, daran hatte Fukui eine spitzbübische Freude!) mit zwei Geishas links und rechts und zwei hinter mir fotografiert. Dann spielten sie auf zwei Gitarren und die andern tanzten, zuerst einen Chrysanthemen-Tanz, dann eine allein etwas lebhafter, das sollte einen etwas angeheiterten Mann vorstellen. Dann kamen sie an den Tisch und beteiligten sich an der Unterhaltung. Es war eine sehr nette Stimmung, - anders als am Tag zuvor!

Samstag, 2. Dezember früh:

Heute Abend Abreise! Toller Gedanke! Alles liegt schon packbereit, packen wird Frau Fukui.

Fotos Japan 1961

Kontakt mit Musashino im Jahr 2009

Ein guter Freund von mir, der Oboist Ingo Goritzki, berichtete mir im Winter 2008, dass er zur Zeit an Musashino in Tokyo unterrichte. Dies war Anlaß, ihm einen Fingerzeig auf die Homepage und die Briefe aus Japan 1961 zu geben. Er sprach auch mit Prof. Notaka Fukui, dem heutigen Präsidenten, über die Verbindung und erhielt von diesem einige Fotos von 1961.

Auf meine Frage schrieb Prof. Fukui mir:

Ihre E-Mail vom 14. d.Mts. habe ich dankend erhalten. Ich habe mich gefreut, als ich erfuhr, dass Sie die von uns an Herrn Goritzki übersandten Fotos erhalten konnten. Dass Sie diese Fotos auf der Homepage von Prof. Hermann Keller veröffentlichen wollen, empfinde ich als eine besondere Auszeichnung. Sie können sie gern verwenden. Die Namen der abgebildeten Personen habe ich Herrn Goritzki bereits übermittelt.

Als Prof. Keller zur Musashino kam, habe ich für ihn gedolmetscht. Die Reise mit ihm durch Japan ist eine unvergessliche Erinnerung geblieben. Mit großem Ihteresse habe ich mir Ihre Webseite angesehen. Es waren da auch zwei Fotos, Prof. Keller bei einem Vortrag, wobei ich gedolmetscht habe. Ich habe mich gefreut, sie zu sehen, da ich sie selbst nicht besitze.

Ich danke Herrn Fukui, dass er die Genehmigung zur Veröffentlichung gegeben hat - ergänzen diese Fotos doch wunderbar die, die ich im Archiv meines Vaters gefunden hatte.

April 2009

Fotos Fukui Japan 1961